Berlin. In anderen Ländern werden Grundschüler beim Lesen stetig besser, während in Deutschland Stillstand herrscht. Aber woran liegt das?

Um zu testen, wie gut Grundschüler lesen können, kann man ihnen eine einfache Erzählung vorlegen und dann Fragen zur Handlung stellen. Zum Beispiel: „Was tut Marie am Anfang der Geschichte?“ Aus vier möglichen Antworten müssen die Kinder die richtige wählen und ankreuzen. In diesem Fall lautet sie: „die Hühner füttern“. Doch es gibt Viertklässler, die nicht einmal eine so schlichte Frage beantworten können.

Bundesweit schafft inzwischen jedes fünfte Kind am Ende der Grundschule nicht einmal mehr elementare Leseleistungen. Seit 2001 ist der Anteil der Viertklässler, die kaum lesen können, von 16,9 Prozent auf 18,9 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen. „Das sind die Kinder, die immer weitergereicht werden und dann als 15-Jährige in den PISA-Tests schlecht abschneiden“, beklagt Bildungsforscher Wilfried Bos von der Technischen Universität Dortmund.

Schere zwischen guten und schlechten Schülern geht auseinander

Fast 20 Prozent ohne ausreichende Lesekenntnisse: Das ist das am meisten bedrückende Ergebnis der neuen Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Tröstlich könnte sein, dass Deutschlands Viertklässler im Vergleich zum Jahr 2001 im Durchschnitt heute etwa gleich gut lesen – und das, obwohl die Grundschulen viel mit der Inklusion behinderter Kinder und der Integration von Zuwandererkindern zu tun haben.

Jedes dritte Kind hat mittlerweile mindestens ein Elternteil, das aus dem Ausland stammt. Doch hinter dem stabilen Durchschnittswert liegt ebenfalls eine besorgniserregende Entwicklung: Die Schere zwischen guten und schlechten Schülern geht weiter auf.

Der Leseerfolg hängt vom Elternhaus ab

Hinzu kommt: Erneut zeigt die IGLU-Studie, wie sehr Schulerfolg vom Elternhaus abhängt. So ist der Lesevorsprung von Kindern aus Familien mit mehr als 100 Büchern gegenüber Familien mit weniger Büchern in Deutschland höher als in fast allen 47 Vergleichsländern. Nur in Bulgarien und der Slowakei sind Auswirkungen der sozialen Unterschiede auf die Bildungschancen ähnlich stark wie in Deutschland, und nur in Ungarn sind sie sogar noch etwas stärker.

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    Auch die Chance auf eine Gymnasialempfehlung hängt heute in Deutschland noch stärker vom Elternhaus ab als vor 15 Jahren: 2001 war die Chance auf eine Empfehlung für Kinder aus oberen Schichten 2,6-mal so hoch wie bei sozial schwächeren Elternhäusern. 2016 war sie 3,4-mal so hoch. Unverändert deutlich wirkt sich die nationale Herkunft aus: Kommen die Eltern aus dem Ausland, beträgt der Unterschied der Leseleistung ihrer Kinder im Schnitt ein ganzes Schuljahr.

    Andere Länder überholen Deutschland

    Insgesamt ist der internationale Vergleich ernüchternd: Während 2001 nur vier andere Staaten höhere Werte bei der Leseleistung erzielten als Deutschland, waren es 2016 mehr als 20. „Vor dem Hintergrund ist Stagnation natürlich Rückschritt“, räumte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Baden-Württembergs Bildungsministerin Susanne Eisenmann (CDU), ein.

    In Deutschland hatten 4277 Schüler aus 208 Schulen an der Untersuchung teilgenommen. Zahlen für einzelne Bundesländer liefert die IGLU-Studie damit zwar nicht, doch sie bestätigt mit Blick auf das Lesen, was auch die jüngste deutsche Schulleistungsstudie im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) belegt: Beim Lesen sind die deutschen Viertklässler im Durchschnitt stabil geblieben, in Mathe, beim Zuhören und in der Rechtschreibung dagegen sind sie zurückgefallen.

    In Berlin und Bremen viele schlechte Leser

    Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Susanne Eisenmann (l-r), Bildungsforscher Wilfried Bos und Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin am Bundesministerium für Bildung und Forschung, stellen die Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2016 vor.
    Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Susanne Eisenmann (l-r), Bildungsforscher Wilfried Bos und Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin am Bundesministerium für Bildung und Forschung, stellen die Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2016 vor. © dpa | Britta Pedersen

    Der im Oktober veröffentlichte „IQB-Bildungstrend“ der KMK zeigt deutliche Unterschiede in der Leseleistung zwischen den einzelnen Bundesländern: Besonders viele schlechte Leser gibt es unter den Viertklässlern in Berlin und Bremen, besonders wenige in Sachsen, Bayern und Schleswig-Holstein. NRW liegt leicht unter dem Durchschnitt. Besonders großes Lob hat sich in den Augen der Bildungsexperten die Hamburger Schulpolitik verdient: Hier sei es gelungen, mit einer verpflichtenden und fächerübergreifenden Sprachförderung die Leseleistungen der Grundschüler deutlich zu verbessern, hieß es am Dienstag in Berlin.

    Bundesweit dagegen sei viel zu wenig passiert, klagt Bildungsforscher Bos. So gebe es zwar mehr Ganztagsschulen, ein guter Teil aber seien „bessere Kitas oder reine Betreuungseinrichtungen“. Auch die zahlreichen Leseförderprogramme der einzelnen Länder seien oft wirkungslos: Von 80 Programmen bundesweit sei nur ein Bruchteil qualitätsgeprüft, und nur bei zweien könne er sagen: „Da kommt unterm Strich auch was bei herum.“ Das IGLU-Erfolgsland Irland dagegen zeige, wie man mit einem staatlichen Ganztagsschulsystem, besserer Lehrerbildung und stärkerer Einbeziehung der Eltern viel erreichen könne.

    Die Linkspartei und die Grünen erneuerten am Dienstag ihre Forderung nach einem Systemwechsel in der Bildungspolitik: Damit Bund, Länder und Kommunen ohne Hürden an einem Strang ziehen könnten, müsse das Kooperationsverbot in der Bildung im Grundgesetz endlich gänzlich fallen. „Dann kann ein neues Bund-Länder-Ganztagsschulprogramm vereinbart und gestaltet werden“, forderte Grünen-Bildungsexperte Kai Gehring.

    Die Lust aufs Lesen ist in den letzten 15 Jahren geschrumpft

    Auch die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer verlangt größere Anstrengungen zur Verbesserung der Leseleistungen von deutschen Schülern. Die IGLU-Ergebnisse seien unbefriedigend: „Deutschland befindet sich noch immer auf dem Standstreifen, und wir müssen noch einen Gang zulegen, um auf die Überholspur zu gelangen“, sagte die FDP-Politikerin dieser Redaktion. Auch die Digitalisierung könne dazu beitragen, die tradierten Kulturtechniken Schreiben, Rechnen und Lesen zu stärken. Lesekompetenz sei jedoch mehr „als das Konsumieren von 280 Zeichen-Tweets“.

    Eltern können hier Vorbild sein: „Man kann nicht von Kindern erwarten, dass sie zum Buch greifen, wenn man selbst den ganzen Tag am Smartphone hängt“, sagt Eisenmann. Denn, auch das zeigt die Studie: Lust aufs Lesen ist ein wichtiger Faktor beim Lesetraining. Fast jeder fünfte Viertklässler sagt, dass er nie oder fast nie zum Vergnügen liest. Umgekehrt haben Kinder, die gern viel lesen, ein deutlich geringeres Risiko, am Ende der vierten Klasse an den Anforderungen zu scheitern. Der Anteil der Kinder allerdings, die fast jeden Tag Lust aufs Lesen haben, ist in den letzten 15 Jahren gesunken.

    Einen Kommentar dazu lesen Sie hier: Schleichende Katastrophe