Altena/Berlin. Bürgermeister Andreas Hollstein hat sich nach dem Messerangriff bei seinen Helfern bedankt. Ihm sei ein drittes Leben geschenkt worden.

Montag, kurz vor acht Uhr abends. Nach einer Ausschusssitzung ist es spät geworden. Altenas Bürgermeister Andreas Hollstein (CDU) kauft deswegen noch schnell einen Döner für sich und seine Frau, die krank zu Hause liegt. Es sind nur 200 Meter bis zu seinem Zuhause. Jetzt ist Feierabend.

Hollstein hat gerade bestellt, als er von einem Mann angesprochen wird. Dieser fragt, ob er der Bürgermeister sei. „Ja“, sagt Hollstein. Darauf holt der Mann ein Messer aus seinem Rucksack, 30 Zentimeter ist es lang. Er tritt hinter Hollstein und drückt ihm die Klinge an den Hals. „Du drehst mir mein Wasser ab, du bist schuld, dass ich nichts zu saufen bekomme. Ich stech dich ab“, schreit er, will Hollsteins Kehle durschneiden. Der Politiker wehrt sich, drückt das Messer weg.

So berichten Augenzeugen und Hollstein selbst über den Abend des Messerangriffs. Der Imbissbetreiber Abdullah Demir und sein Sohn Ahmet schreiten ein, entwaffnen den Angreifer. Abdullahs Frau rennt zur Polizeiwache in der kleinen Stadt im Sauerland, die nur einige Meter entfernt ist.

Bürgermeister wird nicht lebensgefährlich verletzt

Wenige Augenblicke später bringt ein Rettungswagen Hollstein ins Krankenhaus. Die fünf Zentimeter lange Schnittwunde hat den Bürgermeister nicht lebensgefährlich verletzt. Er kann schon am gleichen Abend wieder nach Hause. Den Täter führen Polizisten ab: Werner S., 56 Jahre alt, Deutscher.

Die Imbiss-Betreiber Ahmet Demir und sein Vater Abdullah Demir (v.r.) in ihrem „City Döner“.
Die Imbiss-Betreiber Ahmet Demir und sein Vater Abdullah Demir (v.r.) in ihrem „City Döner“. © dpa | Oliver Berg

Demir, Besitzer der Imbissbude, erklärt, dass der Angreifer betrunken gewesen sei und dass er gegen die Integrationspolitik des Bürgermeisters gewettert habe. Die Staatsanwaltschaft in Hagen geht daher von einer politisch motivierten Tat aus.

Mit dem Einsatz der Demirs konnte Schlimmeres verhindert werden. Hollstein dankte ihnen am Dienstag: „Wenn die beiden nicht geholfen hätten, bin ich mir nicht sicher, ob ich heute noch am Leben wäre.“ Und Hollstein sagt: „Ich habe um mein Leben gefürchtet.“

Die 18.000-Einwohner-Stadt Altena wurde bundesweit bekannt, weil sie mehr Flüchtlinge aufnimmt, als sie müsste. Damit soll unter anderem der starke Rückgang der Einwohnerzahl gestoppt werden. Mit seiner auf eine schnelle Integration der Asylbewerber ausgerichteten Politik hat sich Hollstein auch Feinde gemacht.

Politiker werden immer wieder angegriffen

Immer wieder werden Politiker Opfer gewalttätiger Übergriffe. Prominentestes Beispiel aus jüngerer Vergangenheit ist der Messerangriff auf Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker im Oktober 2015. Als Kommunalpolitikerin machte sich Reker stark für die Wohnsituation von Flüchtlingen und zog so den Hass eines Rechtsextremisten auf sich.

Von einer geplanten Tat gegen den Bürgermeister in Altena geht der Oberstaatsanwalt Gerhart Pauli aus Hagen jedoch nicht aus, obwohl der Mann das Messer im Rucksack bei sich trug. Pauli stuft den Angriff als „spontan“ ein, da der mit 1,2 Promille alkoholisierte Täter Hollstein erst in der Imbissbude erkannt habe.

Blick auf den Döner-Imbiss in Altena.
Blick auf den Döner-Imbiss in Altena. © dpa | Markus Klümper

Ob es sich bei dem Delikt um eine schwere, staatsgefährdende Gewalttat mit Vorsatz handelt, ist deswegen noch strittig. Bislang gebe es zudem keine Hinweise, dass der Täter Verbindungen in die organisierte rechtsextreme Szene gehabt habe. Sowohl das Bundesinnenministerium als auch das nordrhein-westfälische Innenministerium warten die Ergebnisse der Ermittlungen ab, bevor die Tat eindeutig bewertet wird. Von einem „Akt des Terrors“ ist aufseiten der Behörden erst einmal nicht die Rede.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt stattdessen wegen des dringenden Tatverdachts des versuchten Mordes. Zudem lägen niedrige Beweggründe vor, da der Beschuldigte seine Tat mit der Flüchtlingspolitik des Bürgermeisters gerechtfertigt hatte. „Das stellt aus unserer Sicht eine Motivation dar, die auf unterster niedriger sittlicher Stufe steht“, erklärt Staatsanwalt Pauli.

Täter fiel durch Trunkenheitsdelikte auf

Werner S. war bisher nicht als besonders straffällig aufgefallen, bestätigt die Polizei. Nach Aktenlage habe er lediglich durch Trunkenheitsdelikte auf sich aufmerksam gemacht. S. gab selbst an, unter Depressionen zu leiden, eine psychiatrische Begutachtung soll nun Klarheit schaffen.

In der Pressekonferenz schildert Bürgermeister Hollstein, dass der Angreifer keine Angst gehabt hätte, von den Polizeibeamten erschossen zu werden. Er soll die Polizisten angeblich sogar aufgefordert haben, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Der Angriff ist ein neuer Fall von Gewalt gegen Politiker. Das Bundeskriminalamt (BKA) zählt in 2017 bereits 450 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger. 2016 waren es sogar noch 1800.

Deutscher Städtetag fordert Strafverschärfung

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) fordert eine Strafverschärfung: „Während wir bereits einen verbesserten Schutz für Polizisten und Rettungskräfte im Strafgesetzbuch haben, brauchen wir diesen dringend auch für Kommunalpolitiker“, sagte Uwe Lübking, Rechts- und Sicherheitsexperte des Spitzenverbands, dieser Redaktion.

Seit dem Höhepunkt der Fluchtkrise habe „die Massivität der Angriffe extrem zugenommen“. Lübking kritisiert, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte nicht konsequent gegen die Attacken vorgingen. „Leider bestehen insbesondere bei den Anklagen große Defizite: Viel zu viele Fälle werden wieder eingestellt, weil sie nicht als politisch motivierte Übergriffe ernst genommen werden.“

Der Verband fordert daher ein Kompetenzzentrum für die Bearbeitung von politisch motivierter Gewalt gegen Mandatsträger. „Um die Drohungen auszuwerten, müssten sie zunächst einmal an zentraler Stelle erfasst werden“, sagte Lübking. Er wendet sich an die Regierung: „Beileidsbekundungen aus dem Justizministerium reichen nicht aus.“

Hollstein will nach der Attacke genauso weitermachen

Hollstein soll einen Tag nach der Tat E-Mails bekommen haben, die den Angriff befürworteten. An seiner Einstellung werde er aber nichts ändern. „Jeder ehrenamtliche Ratsherr, der sich für Menschen einsetzt, egal ob es deutsche oder geflüchtete Menschen sind, erlebt in den sozialen Medien Hass und auch Bedrohungsszenarien.“

Hollstein sieht einen Werteverfall dieser Gesellschaft, aber keinen Grund zum Aufgeben. Gegen den Täter hegt er keinen Groll. Hollstein bezeichnete den Attentäter als „schlichtes Gemüt“, der als Werkzeug derjenigen dient, die „Hass in der Gesellschaft“ befeuerten. Immer wieder registriert die Polizei Angriffe gegen Geflüchtete, Asylbewerberheime und Flüchtlingshelfer. Nur selten fassen Ermittler die Täter. Seit einem Jahr geht die Anzahl der Delikte deutlich zurück.

Wenige Stunden vor der Tat gegen Hollstein hatte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet den deutsch-iranischen Schriftsteller Navid Kermani in Köln geehrt. Laschet pries in seiner Laudatio besonders Altena als „leuchtendes Vorbild für Weltoffenheit“. Preisträger Kermani hatte an diesem Abend seinen Festredner, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, und die neben ihm in der ersten Reihe des Kölner Gürzenich sitzende Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker gewürdigt.

Henriette Reker spricht Hollstein Mut zu

Er wisse, hebt Kermani an, dass über das Thema normalerweise bei solchen Festveranstaltungen verschämt hinweggegangen werde, aber er sage es jetzt trotzdem mal: Er finde es „heroisch“, dass die beiden Attentatsopfer Schäuble und Reker weiterhin Politik für das Gemeinwohl machten, obwohl sie fast ermordet worden wären.

Schäuble, der 1990 von einem Verwirrten angeschossen wurde, spricht öffentlich so gut wie nie über die Tat. Reker, die 2015 am Kölner Wahlkampfstand niedergestochen wurde, erzählt offen über ihren Weg zurück in einen Alltag. Sie wird Hollstein später Mut zusprechen: „Ein solches Attentat verändert das Leben, aber es darf nicht unser Verhalten verändern.“

Hollstein will nicht mit Schäuble oder Reker verglichen werden, die nach seiner Sicht mit schwereren Schicksalsschlägen zu kämpfen haben. Doch auch Hollstein will genauso weitermachen. Er danke dem „lieben Gott“: „Meine Verletzung war zum Glück harmlos. Aber ich feiere seit gestern meinen dritten Geburtstag. Ich habe ein drittes Leben bekommen.“ Das zweite Leben sei ihm geschenkt worden, nachdem er eine Krebserkrankung überstanden hatte.