Berlin. Die „Identitäre Bewegung“ hetzt gegen Muslime und kopiert Methoden der Linken. Der Verfassungsschutz beobachtet eine Radikalisierung.

Die jungen Männer klettern auf einer Leiter den hellen Stein des Brandenburger Tors hoch. Oben zünden sie Pyrotechnik, schwenken Fahnen und entrollen ein Banner. „Sichere Grenzen – Sichere Zukunft“ steht dort in dicken schwarzen Buchstaben. Die Augustsonne scheint über Berlin, Passanten bleiben stehen, machen Fotos mit ihren Handys. Ein paar Hundert Meter entfernt feiert das Kanzleramt den „Tag der offenen Tür 2016“. Schwerpunkt: Migration und Integration.

Martin Sellner ist stolz. Er sei begeistert von der „patriotischen Aktion“ seiner Leute. In dem Video, das Sellner von sich ins Internet gestellt hat, sieht er eine „Islamisierung“ in Europa aufziehen, schimpft auf „linke kulturelle Hegemonie“ und schwärmt vom „Widerstandspotenzial der Bewegung“.

Kampf für „herrschende Ideologie“

Der Österreicher Sellner, 27 Jahre alt und Trump-Fan, trägt eine Brille mit dickem Rand und einen hippen Kurzhaarschnitt. Er ist einer der Lenker der „Identitären Bewegung“, kurz IB. Auch für die deutsche Szene spielt er eine wichtige Rolle. Sellner studiert Philosophie an der Uni in Wien. Doch viel Zeit verbringt er für seinen Kampf gegen die „herrschende Ideologie“, wie er sagt. Sellner nennt sich Patriot.

Politische PR-Aktionen wie am Brandenburger Tor kennt man von Umweltschützern oder Linken. Die Anhänger der „Identitären“ tragen wie andere Szenen Kapuzenpullis, drucken sich Wappen und Slogans auf T-Shirts, filmen ihren Protest, stellen Videos ins Netz, twittern darüber. Sie blockierten die CDU-Zentrale in Berlin, sie liefen vollverschleiert durch Innenstädte und forderten „Burkas für alle“. Sie sind jung, hip – und stramm rechts. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft die Anhänger als Extremisten ein und beobachtet die Gruppe.

Einblick in die Gruppe der „Identitären“

Interne Dokumente der selbsternannten „Bewegung“, gut 50 Seiten, zeigen, mit welcher Strategie die IB ihr Netzwerk in Deutschland ausbauen will. Gespräche mit Sicherheitsbehörden, Rechtsextremismus-Experten, aber auch Mitgliedern wie Sellner geben Einblick in eine Gruppe, die mit wenigen Leuten viel Aufmerksamkeit erreicht. Eine Gruppe, die derzeit Aufwind hat, auch weil die Hetze gegen Muslime bis weit in die Mitte der Gesellschaft gerückt ist.

„Identitäre“ wie Sellner malen Untergangsszenarien mit ihren Worten. Im Interview mit dieser Redaktion spricht er vom „staatlichen Experiment der Zuwanderung“, das „unsere Zukunft“ zerstöre. Anhänger wie Sellner definieren Europas Identität vor allem über ein Feindbild: Muslime. Sellner redet vom „großen Austausch“, der den „Völkern“ drohe. „Identitäre“ sehen ein Kartell aus Politikern und manchen Medien an der Macht, die das weiße und abendländische Europa ruinieren würden. Die IB inszeniert einen Existenzkampf. Und Sellner sieht die IB in vorderster Front.

Begriff „Rasse“ durch „Identität“ ersetzt

Der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent sagt: „Ihr Ziel ist vergleichbar mit einer völkisch-nationalistischen Bewegung der Weimarer Republik.“ Die IB habe nur das Wort „Rasse“ durch das Wort „Identität“ ausgetauscht. Muslime und Zuwanderer aus dem türkischen oder arabischen Raum würden oft als „Besatzer“ und deren Kultur ausschließlich als Bedrohung für den Westen angesehen, sagt der Verfassungsschutz.

Die IB hat ihren Ursprung in Frankreich. 2012 veröffentlicht die „Génération identitaire“ ein Video im Internet. Sie nennen es die „Kriegserklärung“. Junge Männer und Frauen hetzen gegen eine „erzwungene Mischung der Rassen“, sie sehen sich als „Opfer der 68er-Bewegung“, warnen vor dem „Multi-Kulti-Kollaps“. Untermalt ist ihre Botschaft mit epochaler Musik.

Umgedrehtes V in Kreis ist ihr Markenzeichen

Ihr Kennzeichen: ein umgedrehtes V, der elfte Buchstabe des griechischen Alphabets, in einem Kreis. In der Antike soll sich ein kleines Heer der Spartaner mit dem Lambda auf ihren Schildern einer vielfach größeren Armee der Perser entgegengestellt haben. Griechen gegen Perser damals. Europäer gegen Muslime heute.

Die IB zählt zu den „Neuen Rechten“. Sie wollen außerparlamentarische Opposition sein. Sellner sieht die „Identitären“ als Teil eines rechten „Widerstandmilieus“ – zu dem auch rechte Ideologen wie Jürgen Elsässer und Götz Kubitschek, die Anführer von „Pegida“ und Teile der AfD gehören. Sellner nennt die IB eine „metapolitische Lobbygruppe“.

Gruppierung will Emotionen durch Propaganda befeuern

Interne Papiere der „Identitären Sommerakademie 2015“ zeigen genauer, was die IB damit meint und wo sie hin will. Politik sei die „Hardware“, also Gesetze, Parteien oder Posten. Die IB sieht dagegen die „Metapolitik“ als „Schlüssel zum politischen Erfolg“: Kultur, Sprache, Parolen, Emotionen.

Die „Alten Rechten“ hätten den Fehler gemacht, Macht nur als militärische Stärke zu definieren: „Waffensammeln, Fetisch für Uniformen und paramilitärische Übungen“. Die IB will eine „Metapolitik auf der Straße“ – also zum Beispiel Emotionen befeuern durch Propaganda-Aktionen wie am Brandenburger Tor.

Anleitung zur verschlüsselten Kommunikation

Die „Identitären“ geben ihrem Kulturkampf einen intellektuellen Anstrich. Sie grenzen sich ab von Neonazi-Schlägern in Springerstiefeln. Man brauche „identitär denkende Menschen“, welche die Gesetze verfassen und die Medien gestalten. „Wir brauchen eine identitäre Reconquista der Metapolitik und der Politik“, heißt es in den internen Dokumenten.

In den Unterlagen sind auch Anleitungen zur verschlüsselten Kommunikation, zum Basteln von Bannern oder Redenhalten. Die Papiere enthalten Verhaltensregeln im Fall einer Hausdurchsuchung durch die Polizei oder bei Anfragen von Journalisten. Wird jemand inhaftiert, ist die „erste Regel“: „Niemandem wird vergeben, wenn er einen aus unseren Reihen verrät. Wir sind ein Klan und halten zusammen.“

Anweisungen wie in Islamisten-Kreisen

Eine Untersuchungshaft sei Missbrauch der Staatsgewalt. „Du bist kein Krimineller, sondern ein Aktivist, und du kämpfst weiter“, schreiben die IB-Organisatoren. Vergleichbare Anweisungen kursieren auch in Islamisten-Kreisen oder der linksextremen Szene.

Auch Fragebögen an Aktivisten finden sich in dem Material, die nach der politischen Vergangenheit und der Haltung zu rechtsextremen Parteien wie der NPD fragen. Und: „Wo erkennst du noch Schwachstellen bei der Identitären Bewegung?“ oder „Wo siehst du dich in zwei Jahren innerhalb der Bewegung?“

In der „Identitären Bewegung“ herrschen straffe Hierarchien

Neue Slogans für Banner oder Flyer müssen mit „Ortsgruppenleitern“ oder der nationalen Leitung abgesprochen werden. Die internen Dokumente legen nahe: Die IB ist straffer und hierarchischer organisiert, als sie sich nach außen gibt.

Ein Workshop erklärt, wie Ortsgruppen „identitären Raum“ schaffen sollen. „Seit einigen Jahren haben Identitäre sogenannte „Identitäre Häuser in vielen Städten geschaffen“, heißt es. Von dort aus sollen Aktionen gestartet werden, Treffen stattfinden. Über Spenden und Monatsbeiträge sollen Mitglieder die Miete finanzieren. Auch Konzerte, Boxtraining und Kampfsport könnten dort stattfinden, heißt es.

43.000 Fans auf Facebook

Mehr als 43.000 Nutzern „gefällt“ die IB auf Facebook. Sellner spricht von mehr als 500 Mitgliedern und etwa 20 Ortsgruppen in Deutschland. In Österreich seien es neun Regionalgruppen mit 300 Aktivisten. Sellner schätzt, dass die IB 150 bis 200 Demonstrationen und rund 20 „größere Aktionen“ in den Jahren 2015 und 2016 organisiert hat.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) geht dagegen von mindestens 300 Mitgliedern bei der IB in Deutschland aus, von denen jedoch nur eine Minderheit an den Aktionen teilnehme. Die meisten würden nur Mitgliederbeiträge zahlen. Forscher wie Matthias Quent zählen bundesweit nicht mehr als 40 „Identitäre“ zum harten Kern der Gruppe. Die Zahl der Sympathisanten wachse allerdings.

Hetze richtet sich selektiv gegen Muslime

Und der Inlandsgeheimdienst beobachtet eine Radikalisierung der „Identitären“ – gerade im Zuge der Flüchtlingskrise. Die fremdenfeindliche Hetze richte sich selektiv gegen Muslime. Es würden mittlerweile vielfache Erkenntnisse zu Kontakten und Verflechtungen der IB mit rechtsextremistischen Personen oder Gruppen vorlegen, sagt BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen dieser Redaktion. Sein Amt gehe von einer „rechtsextremistischen Einflussnahme“ aus.

Die IB habe sich sehr schnell von einem virtuellen Phänomen zu einer „aktionistisch geprägten Organisation“ mit öffentlichkeitswirksamen Auftritten entwickelt, so Maaßen. Und er warnt: „Wir erwarten auch künftig spontane, provokante Aktionen, die sich entsprechend der Ideologie der IB gegen politische Parteien, Moscheen und islamische Kulturvereine oder Asylbewerberunterkünfte richten könnten.“

Neonazis schließen sich den „Identitären“ an

Mehrere Fälle sind bekannt, in denen Aktivisten der Neonazi-Partei NPD zu den „Identitären“ gingen: in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen, in Hamburg, in Sachsen-Anhalt. Im Harz soll eine Gruppe der NPD-Jugendorganisation JN geschlossen eine Ortsgruppe der IB gegründet haben.

Dem Verfassungsschutz sind zudem einige Meldungen über Kontakte der „Identitären“ zu Mitgliedern der AfD bekannt. Auch an Veranstaltungen der Partei nahmen IB-Anhänger teil. In den internen Papieren fordern die IB-Ideologen eine „Front der Patrioten“. Anfang 2017 versuchten ein paar Personen, eine Gruppe bei Facebook zu gründen, in der Mitglieder von IB und AfD sich organisieren sollten. Nach kurzer Zeit verschwand die Gruppe jedoch wieder.

AfD-Funktionäre pflegen Kontakte zur IB

AfD-Funktionäre distanzieren sich auf Nachfrage dieser Redaktion von den „Identitären“. Und doch belegen mehrere Fälle die Kontakte – vor allem in Sachsen-Anhalt. Im April 2016 besuchte der Vorsitzende der AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“, Jan Wenzel Schmidt, eine Aktion der Gruppierung im Harz und trat auch schon als Redner bei der IB auf.

Der Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider war auch schon Gast bei Aktionen der „Identitären“. Auf einer Magdeburger AfD-Demo im November traten wiederum zwei Musiker auf, die sich als „Aktivisten der Identitären“ bezeichneten.

IB-Anhänger sieht Nazi-Vergangenheit als Jugendsünde

Man kennt sich, man besucht sich, man ideologisiert sich. Bei einer Konferenz des rechtspopulistischen „Compact-Magazins“ in Berlin Ende 2016 gehörten neben IB-Mann Sellner auch Pegida-Gründer Lutz Bachmann und Sachsen-Anhalts AfD-Chef André Poggenburg zu den Gästen und Rednern. Sellner war wie Poggenburg schon Gast am „Institut für Staatspolitik“ des neurechten Verlegers Kubitschek, der in Schnellroda im Saalekreis die wichtigste Denkfabrik der rechten Szene hochgezogen hat.

Auch Sellner mischte früher selbst unter Neonazis mit. Eine Jugendsünde, sagt er. Der junge Österreicher distanziert sich heute im Gespräch davon – und nimmt die ganze Gruppe in Schutz. „Wir sind gegen den Islam in Europa. Aber wir sind keine Neonazis oder Rassisten.“ Die IB achte jede Kultur, solange sie unter sich bleibe. Sellner spricht von „jedem Volk“, das auch „Fremdelemente“ aufnehmen könne. Aber es gebe „Grenzen der Kapazität“. Und die seien bei Muslimen „mehr als erreicht“.

IB beschreibt sich als gewaltfrei

Wie weit geht dieser Kampf? Die IB sei gewaltfrei, das heben nicht nur Leute wie Sellner hervor, sondern auch Extremismus-Forscher wie Quent. Eine Waffe habe sich Sellner dennoch besorgt, zur Selbstverteidigung, wie er auf Nachfrage betont. Und er sagt: Nur totalitäre System würden dazu neigen, ihre Bürger zu entwaffnen.