Berlin. Wenn Strafverfahren zu lange dauern, muss die Justiz Tatverdächtige aus der U-Haft entlassen. 2021 stiegen die Zahlen deutlich.

In Bremen musste die Justiz gerade drei Mordverdächtige auf freien Fuß setzen, weil sich das Strafverfahren zu sehr in die Länge zieht: Fälle wie dieser häufen sich in Deutschland. Mindestens 66-mal sind Tatverdächtige 2021 wegen zu langsamer Verfahren aus der Untersuchungshaft entlassen worden.

Das sind deutlich mehr Fälle als im Vorjahr (40) und fast so viele wie im Rekordjahr 2019 mit 69 Entlassungen aus der U-Haft. Die Zahlen hat der Deutsche Richterbund (DRB) bei den Justizministerien und Oberlandesgerichten abgefragt, sie liegen den Zeitungen unserer Redaktion vorab vor.

Ein Zusammenhang zwischen den Haftentlassungen und möglichen Verfahrensverzögerungen wegen der Corona-Pandemie sei für 2021 nach Angaben des Richterbunds nur in einem Fall zu erkennen gewesen. Es handele sich zudem um Mindestzahlen: Nicht alle Entscheidungen über Haftaufhebungen wegen Verstoßes gegen das sogenannte Beschleunigungsgebot würden erfasst.

Viele Staatsanwälte und Richter fehlen in Deutschland

Die Gründe für die Haftentlassungen seien vielschichtig, sagte DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn unserer Redaktion: Strafverfahren seien heute in vielen Fällen weitaus aufwendiger, etwa wegen großen Datenmengen durch die Digitalisierung. Oder es gehe um international verzweigte Tätergruppen.

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Sven Rebehn ist Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds
Sven Rebehn ist Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds © Deutscher Richterbund | Deutscher Richterbund

„Zum anderen fehlt es der Strafjustiz aber nach wie vor deutlich an Staatsanwälten und Strafrichtern, so dass selbst vorrangige Haftsachen von den Gerichten nicht immer innerhalb der rechtsstaatlich gebotenen Fristen erledigt werden können“, kritisierte Rebehn. Bundesweit gehe es um 2000 Stellen.

Richterbund stellt Forderungen an Ampel-Koalition

Der Richterbund forderte, dass die Ampel-Koalition den versprochenen Rechtsstaatspakt 2.0 schnell in die Tat umsetzt. Das Projekt dürfe nicht verschleppt werden.

Rebehn erinnerte daran, dass sich die Koalition vorgenommen habe, die Verfolgung von Kindesmissbrauch, Hass und Hetze im Netz oder Geldwäsche zu intensivieren. „Das ist aber nicht zum Nulltarif zu haben“, sagte er. Der geplante Bundesanteil für den zweiten Rechtsstaatspakt von 500 Millionen Euro pro Jahr sei „mindestens nötig, um die Justiz auf die Höhe ihrer wachsenden Aufgaben zu bringen.“

U-Haft: In diesen Bundesländern kamen die meisten Verdächtigen frei

Den Recherchen zufolge haben Sachsen und Schleswig-Holstein 2021 mit jeweils 11 Haftentlassungen wegen unvertretbar langer Verfahren die meisten Fälle gemeldet. Bayern, das 2020 mit 15 Fällen bundesweit an der Spitze lag, meldete für 2021 mit 10 Entlassungen aus der U-Haft die dritthöchste Zahl. Mehr zum Thema: Mordfall: Gericht lässt trotz Freispruch neues Verfahren zu

Dicht dahinter folgen Berlin und Rheinland-Pfalz mit jeweils 9 Fällen. Baden-Württemberg und Niedersachsen meldeten jeweils 4, Nordrhein-Westfalen 3, Hessen 2, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen jeweils einen Fall. Brandenburg, Bremen, Hamburg und das Saarland meldeten für das vergangene Jahr keine Haftentlassungen wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot. (aky)