Berlin. Die Impfquote muss deutlich steigen. Eine Corona-Impfpflicht braucht es dazu jedoch nicht unbedingt, meint unser Autor Miguel Sanches.

Nach der Serie von Corona-Gipfeltreffen erscheint eine Erkenntnis immer klarer: Die Impfpflicht kommt, erst für einzelne Berufsgruppen und danach für alle. Gesellschaftlich und parlamentarisch zeichnen sich Mehrheiten dafür ab.

Der neue Kanzler Olaf Scholz musste vom Bundesverfassungsgericht zuletzt auch keine Signale vernehmen, die wie ein „Vorsicht an der Bahnsteigkante“ klangen. Nach der Devise „Die Not kennt kein Gebot“ lässt sich vieles rechtfertigen.

Noch kurz vor der Bundestagswahl hatte Scholz fürs Impfen geworben, „nicht mit einer Pflicht, sondern lebensnah“. Man kann sich zweifellos eines Besseren belehren lassen. Wie schnell Scholz eine prinzipielle Haltung abgeräumt hat, irritiert allerdings dann doch.

Miguel Sanches, Politik-Korrespondent
Miguel Sanches, Politik-Korrespondent © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Impfquote liegt unter 75 Prozent. Jeder vierte Bundesbürger kann oder will (noch) nicht geimpft werden. Die Frage, warum einer sich partout nicht immunisieren lassen will, treibt viele Leute um, quer durch Familien und Freundeskreise. Sie spaltet die Gesellschaft, was Scholz für eine „falsche Betrachtung“ hält, wo es doch nur um eine lautstarke sehr radikale Minderheit gehe.

In Wahrheit geht es um Millionen, die weder radikal noch laut sind, sondern sich schweigend zurückgezogen haben, schon infolge der 2G-Regeln. Im Zweifelsfall haben sie ihre Ängste weder ergründet, noch vermögen sie diese zu artikulieren. Sie spüren ein Unbehagen darüber, einen Impfstoff zu akzeptieren, der in Rekordzeit neu entwickelt wurde.

Impfung als Pflicht: Eingriff in die Freiheitsrechte des Individuums

Die Impfung ist eine individuelle Risikoabwägung. Man kann gesichert behaupten, dass sie mehrheitlich vor schweren Krankheitsverläufen schützt. Weswegen jeder gut beraten wäre, sich impfen zu lassen. Aber es erscheint immer unsicherer, ob eine Impfung vor Ansteckung und Weitergabe schützt. Und damit, ob man nicht nur sich, sondern auch andere schützt. Das aber wäre moralisch ein entscheidendes Kriterium.

In jedem Fall ist die Impfpflicht ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und damit in die Freiheitsrechte des Individuums. Es geht auch um die Würde und das Recht auf Selbstbestimmung. Bislang haben die Koalitionäre kaum erklärt, wie, in welchem Zeitraum und mit welchen Sanktionen sie die Impfpflicht durchsetzen wollen.

Völlig unlogisch ist, dass Scholz eine Impfpflicht will, aber kein Impfregister, mit dem sich doch zweifelsfrei feststellen ließ, wer geimpft ist und wer nicht. Ohne ein solches Register kann man die Mehrheit der Ungeimpften nicht gezielt ansprechen und informieren. Genau das wäre aber nötig, um lebensnah für das Impfen zu werben.

Impfpflicht ist unumkehrbar

Die Debatte wird von oben und überstürzt geführt. Im Januar kommen die detaillierten Entwürfe, die im Februar wiederum schon beschlossen werden sollen. Klar ist, dass eine weitaus höhere Impfquote helfen würde, besser durch die Pandemie zu kommen, mit weniger schweren Erkrankungen. Alternativlos ist eine Impfpflicht nicht.

Die meisten Staaten in Europa sehen davon ab. Einige sind mit weniger (Schweiz) oder fast gar keinen Einschränkungen (Schweden) durch die Pandemie gekommen. Die Frage ist, ob das zweifelsohne wünschenswerte Ziel einer 100-Prozent-Impfquote jedes Mittel heiligt. Wenn die Impfpflicht beschlossen wird, wird auch das Verfassungsgericht gefordert sein.

Aus dem jüngsten Karlsruher Beschluss zur Notbremse kann man eine Grundhaltung ablesen. Aber es gibt einen signifikanten Unterschied zwischen Lockdown-Beschlüssen und Impfpflicht. Ein Lockdown ist eine begrenzte Aktion, an Kriterien und Zeitvorgaben geknüpft. Eine Impfpflicht ist im Ergebnis unumkehrbar. Wenn die Strafandrohung nur drastisch genug ist, bleibt den Betroffenen nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Faktisch ist es ein Zwang.