Berlin. Sandra Ciesek warnt davor, die Corona-Pandemie jetzt im Herbst zu unterschätzen. Zudem hält sie Booster-Impfungen für alle für möglich.

Die Zahlen, die das Robert Koch-Institut (RKI) derzeit täglich meldet, steigen wieder rasant an. „Mir macht im Moment Sorge, dass der Anstieg der Neuinfektionen zusammenfällt mit einer schon sehr hohen Belegung auf Intensivstationen von derzeit ungefähr 1600 Patienten, die zum großen Teil schon länger dort liegen“, sagt Sandra Ciesek, Leiterin der Medizinischen Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, in der neuen Folge des NDR Podcasts „Das Coronavirus-Update“.

„Das führt dazu, dass wir im Vergleich zum letzten Jahr sogar schlechter dastehen“, so Ciesek. Zugleich sehe man allerdings, dass im Vergleich zu vergangenem Jahr zu dieser Jahreszeit deutlich weniger Patienten an der Infektion sterben, wenn sie geimpft sind.

Besonders viele Neuinfektionen gibt es laut RKI derzeit bei den 5- bis 19-Jährigen. Doch die größten Wachstumsraten verzeichnen die Altersgruppen ab 50 Jahren. Diese machen laut aktuellen Daten fast 80 Prozent der Covid-19-Fälle auf den Intensivstationen aus. Der steigende Inzidenzwert bei den Älteren hat also unmittelbar Auswirkungen auf die Belastung in Krankenhäusern.

Ciesek über aktuelle Corona-Lage: „Es gibt einen Gewohnheitseffekt“

Für Virologen und Intensivmediziner ist das ein alarmierendes Signal. Doch im Bewusstsein der Gesellschaft scheint das nicht richtig angekommen. „Ich habe das Gefühl, dass es im Moment nicht wirklich jemanden mehr interessiert, weil ein Gewohnheitseffekt eingetreten ist, man gewöhnt sich an diese Zahlen“, sagt Ciesek.

Am wichtigsten sei weiterhin das Impfen, so die Virologin. „Impfen reduziert das individuelle Risiko schwer zu erkranken für jeden“, so die Virologin. Sie meint: „Das Argument, nur weil ich nicht hundert Prozent Sicherheit oder Schutz bekomme, mache ich es gar nicht, finde ich ein ziemlich schlechtes Argument, weil man in der Medizin fast nie hundert Prozent erreicht.“

Ciesek hält Auffrischungsimpfungen für alle für möglich

Jedoch lasse die Wirkung einer Corona-Impfung teilweise schnell nach. Nach ungefähr drei Monaten könne man sich wieder anstecken, gerade mit der Delta-Variante. Als Geimpfter hat man selbst dann immer noch einen hohen Schutz gegen einen schweren Verlauf, aber man kann das Virus weiterverbreiten.

Auffrischungsimpfungen werden von der Ständigen Impfkommission (Stiko) derzeit vor allem Älteren und Risikopatienten empfohlen, aber auch medizinischem Personal und Pflegekräften wird geraten, sich nach etwa sechs Monaten „boostern“ zu lassen.

Dass möglicherweise bald alle Geimpften die Empfehlung zu einer weiteren Dosis bekommen, hält Ciesek für möglich: „Man sieht es an Israel. Die haben ihre vierte Welle durch eine Booster-Impfung der Gesamtbevölkerung gebrochen. Das wäre auch hier möglich. Es muss nur klar kommuniziert werden, dass der Eigennutz für junge Leute mit einer dritten Impfung nicht so hoch ist wie bei der initialen Impfung, sondern, dass es vor allem um ein gemeinschaftliches Blocken der Infektionsketten geht.“

Direkte Ansprache der Ungeimpften könnte sinnvoll sein

Ciesek hält eine bessere Impfaufklärung für notwendig. Sinnvoll hierbei könnte eine persönliche Ansprache der Ungeimpften sein, meint sie. „In der Altersgruppe über 50 haben wir immer noch etwa eine Million Menschen, die nicht geimpft sind. Man sollte da noch mal versuchen, die direkt anzusprechen. Ich finde die Kommunikation zum Impfen bisher sehr anonym und sehr indirekt.“

So hätten Forscher aus Mannheim, Friedrichshafen und Washington in einem Feldversuch mit Bürgerbriefen überprüft, welchen Erfolg diese Art der Motivation haben könnte. Eine Hälfte der Gruppe bekam Standardbriefe, die andere Hälfte Briefe mit einer direkten Ansprache. In dieser Gruppe wurden 40 Prozent mehr Impfungen verzeichnet als in der Vergleichsgruppe.

Weitere Folgen des Corona-Podcasts:

Auch Kinder von Post-Covid-Symptomen betroffen

Vor allem Eltern, die trotz der Stiko-Empfehlung für eine Corona-Impfung ab zwölf Jahren noch Risiko und Nutzen für ihre Kinder abwägen. Ciesek weist damit auf ein neues Preprint - eine wissenschaftliche Vorab-Publikation - zu Post-Covid-Symptomen unter anderem von der TU Dresden hin.

Dafür wurden Krankenkassendaten von 38 Millionen Menschen, der Hälfte aller Versicherten in Deutschland, betrachtet, darunter fast 12.000 Minderjährige. Zwar stammen die Daten aus der ersten Welle und sie sagen nichts aus über die Dauer von Symptomen, weil die Patienten nur etwa drei Monate nachbeobachtet wurden.

Aber, so Ciesek, dass ein Risiko auch bei Kindern für Post-Covid da ist, zeige die Studie schon. Bei Erwachsenen waren bei den Symptomen Geschmacksstörungen Spitzenreiter, gefolgt von Fieber und Atembeschwerden. Bei Kindern und Jugendlichen eher Husten, Müdigkeit und Erschöpfung oder Unwohlsein.

Ciesek warnt vor falscher Sicherheit nur 3G-Regelungen

Die Virologin warnt im Podcast auch vor falscher Sicherheit durch Veranstaltungen mit 2G- oder 3G-Regelung. „Das macht mir mit am meisten Bauchschmerzen im Moment, denn es vermittelt eine falsche Sicherheit“, sagt Ciesek. So müsse ein negativ getesteter Nicht-Geimpfter immer darauf gefasst sein, dass er in Kontakt mit Geimpften kommen kann, die das Virus übertragen können.

„Die veröffentlichten Daten zeigen, dass Geimpfte zwar weniger infektiös sind und auch kürzer, trotzdem ist es möglich, dass das passiert. Ich finde wichtig, dass den Leuten das bewusst ist, wenn sie jetzt wieder relativ normal leben.“ (bef)