Berlin. Die Corona-Inzidenz ist wieder über die Marke von 100 geklettert. Gesundheitsminister Spahn will trotzdem den nationalen Ausnahmezustand beenden - und stößt damit auf Kritik.

Die Corona-Inzidenz in Deutschland ist erstmals seit Mai wieder klar dreistellig. Das Robert Koch-Institut (RKI) gab die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche am Sonntag mit 106,3 an.

Zum Vergleich: Am Vortag hatte der Wert bei exakt 100 gelegen, vor einer Woche bei 72,7. Die Gesundheitsämter meldeten dem RKI binnen eines Tages 13 732 Corona-Neuinfektionen - vor einer Woche waren es noch 8682 Ansteckungen gewesen.

Kritik an Spahns Vorstoß

Der Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für eine Beendigung der durch den Bundestag festgestellten Corona-Notlage sorgte auch angesichts der steigenden Zahlen weiter für Diskussionen. Kritiker befürchten einen "Flickenteppich" an Maßnahmen und Regelungen.

Spahn sagte im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks, es gehe darum, nach 19 Monaten einen Ausnahmezustand zu beenden. Die Befugnisse der Bundesregierung sollten in einen Normalzustand zurückgeführt werden. Er betonte, dies bedeute keinen "Freedom Day" (Freiheitstag) oder das Ende aller Maßnahmen. Diese könnten auch ohne Ausnahmezustand geregelt werden.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte der "Passauer Neuen Presse", Spahns Ankündigung in einer Phase, in der es steigende Infektionszahlen, Impfdurchbrüche, stagnierende Impfquoten und andere Probleme gebe, habe ihn überrascht. Sollte die Feststellung der epidemischen Notlage nach dem 25. November tatsächlich auslaufen, fordere er eine Ersatzregelung. Auch die Ministerpräsidenten der Länder hatten am Freitag erklärt, es müsse weiter eine bundeseinheitliche Rechtsgrundlage für die Schutzmaßnahmen geben.

Die Grünen-Rechtspolitikerin Manuela Rottmann sagte der "Welt": "Eine unveränderte Feststellung der epidemischen Lange von nationaler Tragweite ist die falsche Antwort. Um der neuen Situation und der Zahl der Geimpften Rechnung zu tragen, schlagen wir stattdessen eine rechtssichere Übergangsregelung vor, die die befristete Fortführung bestimmter Maßnahmen ermöglicht." Die Grünen-Fraktion sei im Gespräch zu der Frage, wie eine Übergangsregelung aussehen könne.

Städtetag warnt vor "Flickenteppich"

Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans verteidigte Spahns Vorstoß. "Die Pandemie ist zwar nicht vorbei, aber sie hat durch die Impfungen ihren Schrecken verloren. Dem müssen wir Rechnung tragen", sagte der CDU-Politiker der "Bild am Sonntag". Er betonte zugleich: "Die Bundesländer müssen auch nach dem Ende der epidemischen Lage die Möglichkeit haben, Maßnahmen zu beschließen. Aber man darf nicht alle Länder über einen Kamm scheren. Bundesländer mit einer hohen Impfquote müssen sich ihre Freiheiten zurückerobern können."

Städtetagspräsident Burkhard Jung warnte in den Zeitungen der Funke Mediengruppe vor einem "Flickenteppich". Ein gemeinsamer Rahmen sei weiterhin notwendig. "Die Länder müssen über den Winter Regeln wie 3G oder sogar 2G und das Tragen von Masken in Innenräumen weiter vorgeben können", forderte der Leipziger Oberbürgermeister. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte den Funke-Zeitungen: "In dieser Übergangszeit nach der Wahl werden wir im Parlament nach Mehrheiten suchen, die größer sind als die aktuelle Regierung."

Die epidemische Lage ist Grundlage für Verordnungen und zentrale Corona-Maßnahmen in Deutschland. Sie wurde erstmalig vom Bundestag im März 2020 festgestellt und später vom Parlament verlängert.

Mit den steigenden Corona-Zahlen keimen auch Sorgen um eine Überlastung des Gesundheitssystems wieder auf. "Die Inzidenzen sind weiterhin extrem eng gekoppelt an die Aufnahmen auf die Intensivstationen", sagte Christian Karagiannidis, leitender Oberarzt an der Lungenklinik Köln-Merheim und wissenschaftlicher Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), dem Deutschlandradio.

Zwar seien die Intensivstationen derzeit mit Covid- und anderen Patientinnen und Patienten etwa gleich stark belegt wie vor einem Jahr, allerdings gebe es inzwischen weniger freie Kapazitäten, weil die Zahl der Betten mangels Pflegepersonal verringert werden musste, betonte Karagiannidis. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen sagte daher der dpa, die Maßnahmen müssten nun auch "auf Unterstützung und möglichst Aufbau des Personalstamms insbesondere im Intensivbereich" zielen.

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