Berlin/Idar Oberstein. Die Netz-Aktivitäten des mutmaßlichen Schützen von Idar-Oberstein deuten auf eine Nähe zu Verschwörungsideologen und extremen Rechten.

Es ist 19.42 Uhr, als Mario N. das erste Mal sein Auto auf der Aral-Tankstelle in Idar-Oberstein abstellt, den Verkaufsraum betritt, ein Sixpack Bier auf den Tresen stellt. Der 20 Jahre alte Kassierer Alexander W. ermahnt N. zum Tragen der Corona-Schutzmaske. Mario N. zieht wütend ab, soll noch das Bier weggeschubst haben und die Faust erhoben haben. Dann zieht er ab.

Knapp zwei Stunden später kehrt er zurück. Wieder holt sich Mario N. Bier, geht zur Kasse. Als ihn der Kassierer erneut ermahnt, zieht Mario N. einen Revolver, den er diesmal mitgenommen hat. Großkaliber, Marke Smith & Wesson. Alexander W. ist sofort tot. So schildert die Polizei den Tathergang.

Die Ermittler fanden eine weitere Schusswaffe, ein Kleinkaliber, bei der Durchsuchung der Wohnung. Derzeit versuchen die Behörden in Rheinland-Pfalz herauszufinden, wo sich N. die Waffen besorgt hat. Einen Waffenschein besitzt er nicht.

Idar-Oberstein: Der Schütze hat sich zur Tat geäußert

Seit diesem Verbrechen steht eine Frage im Raum: Was treibt einen Menschen zu einer solch brutalen Tat? Welche Rolle spielt die Radikalisierung in Foren und Chats online? Denn: Der 49 Jahre alte Softwareentwickler war der Polizei bisher nicht aufgefallen, nicht auf Aufmärschen von Corona-Leugnern, nicht auf Treffen von extrem rechten Verschwörungsideologen.

Mario N. hat sich laut Ermittlern zu seiner Tat geäußert. Und angegeben, er habe den jungen Menschen in der Tankstelle getötet, weil er zum Tragen der Maske ermahnt worden sei. So berichtet die Polizei aus dem Verhör. Die Corona-Pandemie habe „ihn stark belastet“, er habe sich „in die Ecke gedrängt gefühlt“ und „ein Zeichen setzen wollen“.

Eine Bewertung der Motivlage ist schwierig, wenn nicht mehr bekannt ist über die Biografie und die aktuellen sozialen und politischen Beziehungen eines Täters. Auch die psychische Verfasstheit einer Person ist nach Ansicht von Fachleuten entscheidend. Derzeit werten Ermittler die bei der Durchsuchung sichergestellten elektronischen Geräte des mutmaßlichen Täters aus. Sie erhoffen sich weitere Kenntnisse zu den Motiven der Tat.

Mario N. verbreitete Gewaltfantasien auf Social Media

Die Details aus den Äußerungen des Täters legen zumindest zum jetzigen Stand der Ermittlungen nahe, dass er offenbar aus persönlichen, aber doch auch aus politischen Motiven getötet hat. Vor allem das mutmaßliche Twitter-Account von Mario N. liefert wichtige Hinweise. Er folgt dort bekannten extremen Rechten wie Björn Höcke und André Poggenburg, auch dem Profil von Hans-Georg Maaßen, dem früheren Verfassungsschutz-Chef.

Als Höcke im Oktober 2019 sein Bedauern über das Attentat auf die Synagoge in Halle äußert, kommentiert Mario N. offenbar: „Bitte keine arschkriecherei. Sie und ich wissen dass dieser Anschlag kein Zufall ist.“

Aus mutmaßlichen Gewaltfantasien macht N. ebenfalls keinen Hehl. Im September 2019 lautet ein Beitrag: „Ich freue mich auf den nächsten Krieg. Ja, das mag sich jetzt destruktiv anhören, aber wir kommen aus dieser Spirale einfach nicht raus.“

Einen Monat später dann der letzte Tweet des 49-Jährigen: „Meine Muskeln sind gespannt, mein Geist entschärft. Gnade denen welche diese Situation heraufbeschworen haben. Oder nein, Gnade wäre Unrecht.“ Die Polizei prüft laut Medienberichten den Twitter-Account nun im Rahmen der Ermittlungen.

Experte: Nähe des Täters zu „rechtsextremen Akteuren“ vor Corona auffällig

Miro Dittrich vom „Center for Monitoring, Analyse und Strategie“ (CeMAS) hat das Nutzerverhalten von Mario N. in den vergangenen Tagen analysiert. Er sagt: „Was auffällt, ist: Der mutmaßliche Täter von Idar-Oberstein zeigte bereits vor der Corona-Pandemie eine Nähe zu rechtsextremen Akteuren“, darunter etwa Höcke und Poggenburg.

2019 endet die Aktivität von Mario N. auf Twitter. Zumindest auf dem Account, der ihm zugeschrieben werden kann. Auch auf dem Messengerdienst Telegram soll er laut CeMAS aktiv gewesen sein, allerdings postete er demnach selbst dort nichts.

Das Bild verfestigt sich, wenn man das Profil des mutmaßlichen Täters auf der Plattform LinkedIn analysiert. Ihm gefallen dort offenbar Beiträge von einschlägigen Verschwörungsideologen wie Sucharit Bhakdi. Die Aktivitäten von Mario N. sind dort deutlich aktueller, und es wird zumindest deutlich, dass ihn das Thema Corona und die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus beschäftigen.

Radikalisierung der „Querdenker“-Szene wird schon länger vermutet

Roland Sieber befasst sich seit Jahren mit extremistischen Profilen im Internet. Auch er hat die Aktivitäten von N. untersucht. Sieber sagt, dass deutlich werde, dass der mutmaßliche Täter den „menschengemachten Klimawandel“ verharmlose, aber auch „Falschinformationen zur Corona-Pandemie“ verbreite. „Er radikalisierte sich augenscheinlich in einem Online-Milieu aus Corona-Leugnern und AfD-Anhängern“, sagt Sieber.

Schon vor einigen Monaten haben Fachleute auf eine Radikalisierung der Szene hingewiesen und vor Gewalttaten gewarnt. Zwar verlor die Bewegung der Corona-Leugner und sogenannten „Querdenker“ mit den zurückgehenden Inzidenzen und den erfolgreichen Impfungen an Schwung. Doch der radikale Kern blieb – und wurde radikaler.

Dabei setzen Akteure der verschwörungsideologischen und extrem rechten Szene, ähnlich wie islamistische Dschihadisten, mit ihrer massenhaften Verbreitung von Propaganda und Hetze auch darauf, dass einzelne losschlagen, die nicht organisiert sind. Fachleute sehen die Radikalisierung im Netz seit mehreren Jahren als große Gefahr, die von den Sicherheitsbehörden nur schwer kontrolliert werden kann.

Ziel der Propaganda sind nach Kenntnissen von Expertinnen und Experten auch Menschen, die psychisch labil sind, sich zurückziehen in die Resonanzräume des Netzes. Dort finden sie vermeintlich Antworten auf persönliche Probleme oder auf ihr Gefühl eines persönlichen Versagens. Diese Antworten liefert die Propaganda.

Extremisten verherrlichen die Tat im Netz

So sieht es auch Kerstin Sischka von der Fachstelle Extremismus und Psychologie in Berlin, die sich seit Jahren mit Menschen beschäftigt, die in radikale Szenen abgleiten. „Ohne den gewaltlegitimierenden Diskurs der Verschwörungsextremisten“ wäre es nicht zu dieser Tat von Mario N. in Idar-Oberstein gekommen, vermutet Sischka. „Denn dieser Diskurs trägt bei Menschen, die ohnehin große strukturelle Probleme im Umgang mit den eigenen Emotionen haben, leicht kränkbar sind und Gewaltfantasien haben, zu einer weiteren Enthemmung bei.“

Die brutale Tat, so Sischka, werde dann „ideologisch gerahmt“. Wut, Hass und Vergeltungsgefühle würden dann umgedeutet: zu einer Tat, die in einer Szene Anerkennung findet. In der ein Täter dann sogar als „Held“ oder „Rächer“ verehrt werde. So deutet Psychologin Sischka auch die Äußerung von Mario N., er habe „ein Signal“ setzen wollen, als er den Mitarbeiter der Tankstelle erschossen habe.

Schon unmittelbar nach der Tat zeigt sich, wie Extremisten im Netz das Verbrechen verherrlichen. Oder für ihre Verschwörungsideologien nutzen. In der digitalen Welt verbreiten sie nach dieser brutalen Tat weiter Hass und Hetze. Es ist das, wovor Fachleute warnen: das Wechselspiel zwischen analoger und digitaler Welt. Was in Online-Foren passiert, bleibt nicht in diesem Raum. Der Fall von Idar-Oberstein ist ein bitterer Beleg dafür.