Berlin. In Corona-Zeiten gibt es jetzt einen neuen digitalen Treffpunkt zum Debattieren – Thüringens Bodo Ramelow hat seine Tücken erlebt.

Noch vor einer Woche war "Clubhouse" in Deutschland nur wenigen Insidern bekannt, doch das hat sich dramatisch verändert: In einem Tempo, das selbst Experten Rätsel aufgibt, hat die iPhone-App aus den USA die gesellschaftliche Avantgarde erobert. Und das, obwohl es bei "Clubhouse" nicht mal was zu sehen gibt. Die Nutzer der App können nur zuhören oder sprechen, dies aber in Hunderten von Räumen mit wechselnden Themen und „Speakern“. Damit jemand aus dem digitalen Saalpublikum das Rederecht erhält, muss der jeweilige Nutzer einen Button mit einer virtuellen Hand drücken – im "Clubhouse" geht es gesittet zu wie auf der Schulbank.

Mehr zum Thema: Digitales Lockdown-Vakzin - Mega-Hype um App "Clubhouse"

"Clubhouse": Influencer, Politiker und Unternehmer befeuern den Hype


Was so einfach und sogar ein bisschen langweilig klingt, hat in kürzester Zeit ein hochkarätiges Ensemble aus Politikern, Unternehmern, Journalisten, PR-Profis und Influencern missioniert. Social Audio, so der Fachbegriff für das, was die App bietet, ist ohne Zweifel das nächste große Ding im Internet – zumindest vorerst, mitten im Lockdown. "Clubhouse" ist so etwas wie das mentale Gegengift zur Pandemie, ermöglicht trotz Kontaktverboten mehr oder weniger zufällige Begegnungen und den Austausch über im Prinzip beliebige Dinge. Der ist jedoch nicht ohne Tücken.


Anfangs waren vor allem Job-Themen im Angebot. Marktstrategen, Jungpolitiker und Unternehmensberater nutzten die Räume als Bühne für ihr Geschäft und sich selbst. Noch mitten in der Nacht wurde etwa über Programme zur Mitarbeitermotivation doziert, und die Beteiligung war erstaunlich hoch. Inzwischen gibt es fast nichts, was es im "Clubhouse" nicht gibt – sogar „Ruheräume“, in denen die Anwesenden gemeinsam schweigen.


Dabei steht die virtuelle Szene-Location nicht jedem offen. Bisher gibt es die App nur für iPhones und den Zugangscode nur per Einladung. Wer drin ist, darf lediglich zwei weitere Personen einlassen. Dennoch hatten sich in nur vier Tagen 200.000 Nutzer registriert. Bis zu 5.000 Zuhörer werden bei manchen Veranstaltungen gezählt, mehr erlaubt die App aus technischen Gründen nicht.

"Clubhouse" nach nur einem Jahr angeblich schon eine Milliarde wert


Medienjournalist Georg Altrogge, zuletzt Chefredakteur des Mediendienstes Meedia.de, schreibt für unsere Redaktion in seiner Kolumne „Medienszene“ regelmäßig über neue Entwicklungen in der  Medienlandschaft.
Medienjournalist Georg Altrogge, zuletzt Chefredakteur des Mediendienstes Meedia.de, schreibt für unsere Redaktion in seiner Kolumne „Medienszene“ regelmäßig über neue Entwicklungen in der Medienlandschaft. © Heike Albrecht | Heike Albrecht

Gestartet wurde das Angebot vor gerade einmal einem Jahr in San Francisco von zwei Absolventen der Elite-Uni Stanford als eine Mischung aus virtueller Konferenz und Podcast. "Clubhouse" ist eine „Mitmachbude“, die Qualität des Programms hängt ausschließlich von den Nutzern selbst ab. Hinter der App steht das ebenfalls 2020 gegründete Startup Alpha Exploration Company. Schon im Mai investierte der milliardenschwere Unternehmer Marc Andreessen zwölf Millionen US-Dollar in eine Beteiligung der Firma, die damals mit 100 Millionen Dollar bewertet wurde. Inzwischen reichen die Schätzungen bereits bis zu einer Milliarde Dollar.

In Deutschland liegt "Clubhouse" seit Tagen auf Platz eins der Download-Charts im Apple App Store. Viele der mehr oder weniger prominenten Nutzer haben offensichtlich die Wucht der neuen Community unterschätzt. Größtes Problem ist die Verschwiegenheitsklausel. „Was im Clubhouse gesagt wird, bleibt im Clubhouse”, lautet die Regel, die Zuhörern der Live-Diskussionen auch Aufzeichnungen und Zitate verbietet. Aber wie realistisch ist das mit der Diskretion, wenn Tausende Ohrenzeuge sind? Die Vision und das Diktat einer Plattform kollidieren schon nach wenigen Tagen mit Medienrealität und Pressefreiheit.

Ramelow plaudert über "Merkelchen" und "Candy Crush"


So hatte sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow am Wochenende spätabends bei seiner ersten "Clubhouse"-Visite mit launigen Anmerkungen zur Corona-Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Kanzleramt in eine Unterhaltung junger Leute eingeklinkt. Der Landesvater und Linken-Politiker verriet den Zuhörern, das die Runde die Bundeskanzlerin „Merkelchen“ nenne und er selbst bei den ermüdenden stundenlangen Beratungen auch mal dem Computer-Spiel „Candy Crush“ widme und bis zu zehn Level pro Sitzung schaffe. Kurz darauf fanden sich seine Zitate in der „Welt am Sonntag“ wieder.


Deren Chefredakteur Johannes Boie war unter den Zuhörern und titelte „‘Das Merkelchen‘: Als Bodo Ramelow einen Einblick in sein Denken gewährte.“ Noch in der Nacht vor dem Erscheinen der Zeitung kam es bei "Clubhouse" zum emotionalen Showdown zwischen Ramelow und Boie, mit digitaler Anwesenheit weiterer Hauptstadt-Promis und Star-Journalisten. Das Duell vor bis zu 3000 Zeugen endete unentschieden, um 00.40 Uhr. Der Artikel erschien ohnehin. Lektion gelernt: „Nobody is perfect“, auch nicht die schöne neue "Clubhouse"-Welt.