Berlin. Bei „Anne Will“ diskutierte die Runde über den richtigen Umgang mit der Krise auf Lesbos. Moral oder Härte, das war die große Frage.

Bei „Anne Will“ diskutierte die Runde über den richtigen Umgang mit der Krise auf Lesbos. Moral oder Härte, das war die große Frage.

Anne Will nahm am Sonntagabend die Katastrophe von Moria zum Anlass, um über das größere Bild zu sprechen. „Europas gescheiterte Migrationspolitik – welche Rolle soll Deutschland übernehmen?“, lautete die Leitfrage der Sendung.

Diskutiert wurde das Thema von Annalena Baerbock (Grüne), Manfred Weber (CSU), der Migrationsexpertin Marie von Manteuffel, dem Politikberater Gerald Knaus sowie von den Journalisten Isabel Schayani (WDR) und Ulrich Ladurner (Die Zeit).

Eine eindringliche Schalte

Den wichtigsten Beitrag leistete Isabel Schayani. In einer Schalte berichtete sie aus Lesbos: „Die Leute hier drehen durch: Sie kommen aus einem Gefängnis und haben die Sorge, dass das neue Lager auch ein Gefängnis sein könnte“, beschrieb die WDR-Journalistin die Lage der Menschen mit Blick auf das neue Camp, das die griechischen Behörden binnen weniger Tage aus dem Boden gestampft haben.

Die Versorgungslage bezeichnete Schayani als katastrophal. Teilweise würden Helfer abgehalten, Essen auszugeben. Ziel sei, dass die nach dem Brand des alten Lagers herumirrenden Flüchtlinge und Migranten in das neue Camp wechseln – und dass aufgrund der harten Bilder keine neuen Menschen aus der Türkei nachkommen.

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Moral gegen Furcht

Diese Eindrücke von vor Ort waren wichtig, weil sie der dann folgenden Debatte das Virtuelle nahmen. Statt abstrakter Überlegungen sah man gleich zu Beginn: Hier geht es um Menschen, die extremes Leid erfahren.

Wie darauf reagieren? Annalena Baerbock formulierte ein Vorgehen in drei Schritten. Erstens: Vor Ort müsse sofort geholfen werden, forderte die Grünen-Chefin. Zweitens: „Moria muss evakuiert werden“, die Menschen sollten in Europa aufgenommen. Drittens: Eine gemeinsame EU-Asylpolitik müsse her. Eine klare Haltung, wobei sich Baerbock bei der Frage, ob die Menschen alle von Deutschland aufgenommen werden sollten, nicht zu einer klaren Aussage durchringen konnte.

Die Bilder aus dem Flüchtlingscamp Moria

Menschen fliehen mit ihrem Hab und Gut vor dem Feuer im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, in dem in der Nacht vom 8. auf 9. September mehrere Feuer ausbrachen.
Menschen fliehen mit ihrem Hab und Gut vor dem Feuer im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, in dem in der Nacht vom 8. auf 9. September mehrere Feuer ausbrachen. © AFP | Angelos Tzortzinis
Die massiven Brände verwüsteten das Migrantenlager Moria fast vollständig. Das vollkommen überfüllte Camp wurde evakuiert.
Die massiven Brände verwüsteten das Migrantenlager Moria fast vollständig. Das vollkommen überfüllte Camp wurde evakuiert. © Getty Images | Byron Smith
Eine Frau trägt ein Kind an den Flammen vorbei. Tausende Menschen wurden obdachlos, nachdem das Feuer das größte Flüchtlingslager Griechenlands zerstört hatte.
Eine Frau trägt ein Kind an den Flammen vorbei. Tausende Menschen wurden obdachlos, nachdem das Feuer das größte Flüchtlingslager Griechenlands zerstört hatte. © AFP | Angelos Tzortzinis
Mehr als 12.000 Menschen lebten in dem Camp, das eigentlich nur für knapp 3000 ausgelegt war.
Mehr als 12.000 Menschen lebten in dem Camp, das eigentlich nur für knapp 3000 ausgelegt war. © dpa | Petros Giannakouris
Dem Brand waren Unruhen unter den Migranten vorangegangen, weil das Lager nach einem ersten Corona-Fall unter Quarantäne gestellt worden war.
Dem Brand waren Unruhen unter den Migranten vorangegangen, weil das Lager nach einem ersten Corona-Fall unter Quarantäne gestellt worden war. © dpa | Socrates Baltagiannis
Diese Luftaufnahme vom 10. September 2020 zeigt das Ausmaß der Katastrophe – fast alles ist zerstört.
Diese Luftaufnahme vom 10. September 2020 zeigt das Ausmaß der Katastrophe – fast alles ist zerstört. © AFP | Str
Ein Mädchen inmitten von Trümmern.
Ein Mädchen inmitten von Trümmern. © AFP | Angelos Tzortzinis
Tausende Menschen sind jetzt obdachlos.
Tausende Menschen sind jetzt obdachlos. © Getty Images | Milos Bicanski
Ein Kind wacht auf, nachdem es die Nacht auf der Straße verbringen musste. Politiker sprechen von einer „humanitären Katastrophe“.
Ein Kind wacht auf, nachdem es die Nacht auf der Straße verbringen musste. Politiker sprechen von einer „humanitären Katastrophe“. © AFP | LOUISA GOULIAMAKI
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Der Plan klang plausibel. Manfred Weber aber machte die Furcht deutlich, die mit einem solchen Schritt verbunden ist: Deutschland könne das nicht alleine machen, argumentierte der Chef der Konservativen im EU-Parlament. „Das ist die Lektion, die wir aus 2015 gelernt haben.“ Aus den Lagern höre man: Alle wollen nach Deutschland. „Aber das geht nicht. Das geht nicht!“, sagte Weber. Und Zeit-Journalist Ulrich Ladurner assistierte: „Die anderen EU-Staaten werden sich zurücklehnen und sagen: ‚Die Deutschen machen das.‘“

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Ein Faustfand des Schreckens

Auch das klang nicht unplausibel. Genauso wenig wie die Vermutung, dass eine schnelle Aufnahme vielleicht mehr Menschen zur Flucht nach Griechenland verleiten könnte.

Und doch lassen die Gedankengänge erschrecken. Soweit ist die europäische Migrationsdebatte also: Weil man abschrecken will, müssen tausende Menschen auf den griechischen Inseln als eine Art Faustpfand des Schreckens gehalten werden. „Wir sehen Bilder von Familien im Dreck und diskutieren, ob sie eine Last sein könnten. Das ist doch ein Wahnsinn“, fasste Marie von Manteuffel von Ärzte ohne Grenzen treffend zusammen.

Das Fazit

Das Problem und das Dilemma der Moria-Debatte fasste die Runde präzise zusammen. Allein an Lösungen mangelte es. Ja, es braucht eine gemeinsame EU-Asylpolitik. Doch wie soll die jetzt gelingen, nachdem man sich in den vergangenen fünf Jahren schon nicht zusammenraufen konnte?

Auf diese Frage hatte nur Gerald Knaus, der Vordenker des EU-Türkei-Abkommens, eine konkrete Antwort: Die EU müsse der Türkei fünf weitere Milliarden geben, damit sie wieder Flüchtlinge zurücknimmt, forderte der Politikberater. „Es wäre für uns, die Türkei und die Flüchtlinge gut.“ Auch das klang plausibel – und verdammt unbefriedigend.

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