Genua. Zwei Jahre nach dem tödlichen Brückeneinsturz in Genua geht der Neubau in Betrieb. Für die Italiener besitzt er enorme Symbolkraft.

Das halbe Land staunt darüber, wie schnell alles ging. Italien ist in Sachen Großprojekte an schleppende Bürokratie und dauernde Verzögerungen gewöhnt, aber die neue Brücke von Genua wurde im Eiltempo errichtet. „Wir haben nonstop gearbeitet: 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Das bedeutet drei Schichten von acht Stunden“, erklärt der verantwortliche Baukonzern.

Es hat sich gelohnt: Zwei Jahre nach dem Einsturz der Morandi-Brücke in der ligurischen Hafenstadt ist die Lücke in der wichtigsten Verbindung zwischen Italien und Frankreich wieder geschlossen – am Montag geht der Neubau in Betrieb.

Genuas neue Brücke – Stararchitekt Renzo Piano schenkte der Stadt den Entwurf

„In die Freude über den Wiederaufbau mischt sich auch ein bisschen Stolz darüber, dass Genua es in so kurzer Zeit geschafft hat“, berichtet Roberta Canu, Leiterin des örtlichen Goethe-Instituts, von der Stimmung in der Stadt.

Ein Jahr dauerten die Bauarbeiten – normalerweise hätte es drei Jahre gedauert, sagt der Stararchitekt Renzo Piano. Für ihn ist die Konstruktion ein Herzensanliegen: Der 82-Jährige stammt aus Genua und hat seiner Stadt den Entwurf kostenlos zur Verfügung gestellt.

Während eines Sommergewitters öffnete sich plötzlich ein Abgrund

Piano weiß, dass der Neubau für die Italiener eine enorme Symbolkraft besitzt. Der Einsturz löste eine Schockstarre aus: Am 14. August 2018 war ein Unwetter über die 580.000-Einwohner-Stadt gezogen. Um 11.36 Uhr krachte die Fahrbahn der aus den 1960er-Jahren stammenden Konstruktion auf rund 200 Metern zusammen. Autos und Lastwagen wurden mit ihren Insassen rund 40 Meter in die Tiefe gerissen. Lesen Sie dazu: Experte: Auch deutsche Autobahnbrücken stark gefährdet

43 Menschen starben. Häuser wurden unbewohnbar, Spürhunde suchten tagelang nach Verletzten. Das Bild eines Lasters, der kurz vor der Abbruchkante über dem Flussbett anhalten konnte, brannte sich ins kollektive Gedächtnis ein.

Genua im August 2018: Ein 200 Meter langes Teilstück der Autobahnbrücke ist eingebrochen, 43 Menschen stürzten in den Tod.
Genua im August 2018: Ein 200 Meter langes Teilstück der Autobahnbrücke ist eingebrochen, 43 Menschen stürzten in den Tod. © dpa | Antonio Calanni

Die neue Fahrbahn verläuft in 45 Metern Höhe

Piano vergleicht die Brückenelemente in Interviews mit „Schiffskörpern, die über Betonsäulen fliegen“. 18 Pfeiler tragen die rund 1000 Meter lange Straßenverbindung über dem Fluss Polcevera. Die Fahrbahnteile ruhen auf den Stelzen in etwa 45 Metern Höhe. Ähnlich weit wurden die Pfeiler im Boden versenkt. Das Gestein für den Beton der Pfeiler sei nur aus einem Ort geholt worden, damit die Optik stimmt, heißt es beim Bauunternehmen Webuild – Farbschwankungen wollte man nicht.

Auf der neuen Brücke dürfen Autos maximal mit 70 Stundenkilometern fahren. Daran stört sich jedoch niemand: Da ein Großteil des Verkehrs durch die Stadt und zum Hafen über das Viadukt verläuft, geht es dort staubedingt ohnehin meist eher langsam voran.

Bis heute zieht sich die Suche nach Schuldigen hin

So tief die Trauer war, so strahlend soll jetzt der Neustart sein: Egal ob Ministerpräsident Giuseppe Conte oder Genuas Bürgermeister Marco Bucci – viele sprechen von einer „Wiedergeburt“ und vom „Modell Genua“. Das gilt mittlerweile als Vorbild für den Wiederaufbau Italiens nach der Corona-Krise. Selbst zu Zeiten des Lockdowns liefen die Arbeiten an der neuen Brücke auf Hochtouren.

Aufgearbeitet ist der Einsturz indes längst noch nicht. Noch während die Sucharbeiten andauerten, hatte die italienische Regierung die Schuldigen ausgemacht: Die Industriellen-Familie Benetton, die mit 30 Prozent am Brückenbetreiber Autostrade per l’Italia beteiligt war, habe ihr Luxusleben genossen, während ganz Italien um die Opfer von Genua trauere, beklagten Regierungsvertreter. Sie müsse für die Tragödie und den Wiederaufbau bezahlen.

Spektakuläre Sprengung in Genua

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    Italien will die Autobahngesellschaft weitgehend verstaatlichen

    Es ist anders gekommen: Den Neubau zahlt der italienische Steuerzahler. Ermittlungen ergaben zwar Versäumnisse bei Investitionen und Instandhaltung der Brücke, es geht um gefälschte Berichte und mangelnde Kontrollen. Die juristische Suche nach Schuldigen des Desasters zieht sich aber hin.

    Die Benetton-Familie wurde aus der Autobahngesellschaft verdrängt, die Regierung in Rom will das Unternehmen in den kommenden Monaten weitgehend verstaatlichen. Der von der Regierung angedrohte Entzug der Lizenz hätte allerdings zu Klagen in Milliardenhöhe geführt. Denn laut Vertrag stehen der Autobahngesellschaft die anfallenden Mautgebühren bis zum Jahr 2038 zu. Noch läuft kein Strafverfahren.

    Die Kunstflugstaffel der Luftwaffe soll Italiens Farben in den Himmel zeichnen

    Trotz der ungeklärten Schuldfrage atmet Genua auf, wenn die Autostrada dei Fiori, die Blumenautobahn nach Süden, endlich wieder befahrbar ist. Architekt Piano nennt seine Brücke „Kind einer Tragödie“ und „Symbol der Wiedergeburt“ zugleich. Um das zu feiern, wird die Kunstflugstaffel der Luftwaffe heute Italiens Farben Grün-Weiß-Rot in den Himmel zeichnen. Im symbolischen „ersten Auto“ soll Staatspräsident Sergio Mattarella sitzen. Frühestens am Mittwoch dürfte schließlich der normale Verkehr rollen.