Viele Fachkliniken für Psychiatrie schicken in der Corona-Krise Patienten nach Hause. Was geschieht mit den psychisch Erkrankten?

Berlin Wer derzeit mit einer Angsterkrankung, Zwangsstörung oder chronischen Depression einen Termin in einer psychiatrischen Klinik braucht, muss Geduld mitbringen. Viele der bundesweit mehr als 400 Fachkliniken bzw. Fachabteilungen schalten in den Krisenmodus und legen Stationen zusammen, damit sie Corona-Patienten behandeln können – zulasten von Patienten, die keine Notfälle sind.

Die Asklepios Klinik Nord-Ochsenzoll in Hamburg ist eines der größten psychiatrischen Häuser in Deutschland. Auch hier wirbelt die drohende Corona-Überlastung den Betrieb durcheinander. Der Domino-Effekt, den man derzeit so oft beobachten kann: Patienten von den offenen Stationen, bei denen eine Behandlung zu Hause zumutbar erscheint, werden entlassen, um Platz zu schaffen. Die Klinik mit insgesamt 600 stationären Plätzen hat eine eigene Corona-Station mit zunächst 20 Betten eingerichtet. Gleichzeitig gibt es nicht mehr ambulante Plätze.

Coronavirus: Psychiatrien bauen Stationen für Covid-19-Patienten um

„Wir haben natürlich einen Behandlungsauftrag, den wir weiterhin erfüllen“, sagt Professor Claas-Hinrich Lammers, der ärztliche Direktor der Klinik. Für Neuzugänge habe die Krise aber die Schwelle erhöht. „Wir versuchen die Zahl der Neuaufnahmen zu reduzieren“, sagt Lammers.

Um die Patienten auch zu Hause zu versorgen, schwenkt das Personal um auf Telefon- oder Video-Therapie über die E-Health-Plattform „MindDistrict“. Bei der Krisenbewältigung fährt die Klinik auf Sicht. „Das Ganze hat eine Dynamik, die nicht absehbar ist. Wir machen jetzt erst einmal die Schritte, die unmittelbar ratsam erscheinen“, sagt der ärztliche Direktor.

Ähnlich geht es psychiatrischen Krankenhäusern in ganz Deutschland, wie die Deutsche Krankenhausgesellschaft bestätigt. „Psychiatrien sind Teil der länderspezifischen Pandemie-Umsetzungskonzepte“, erklärt ein Sprecher des Dachverbands der deutschen Krankenhausträger.

Die Krisenlage erfordere „nach medizinischer Beurteilung im Einzelfall voll- und teilstationäre Patienten zunächst nicht aufzunehmen oder früher zu entlassen, um Kapazitäten freizumachen“, sagt er weiter. Zusätzlich gebe es nicht nur Zusammenlegungen von Stationen von Psychiatrien, sondern es würden auch ganze Häuser freigeräumt, um Covid-19-Erkrankte aufzunehmen, die nicht psychisch krank sind.

Kliniken bemühen sich, Kontakt zu Patienten zu halten

Für ambulante Patienten versuchten die Standorte alternative Behandlungsformen wie Hausbesuche oder Therapien per Telefon und Video anzubieten. „Hierfür bestehen aktuell jedoch Rechtsunsicherheiten, die kurzfristig gelöst werden müssen, um dies zu ermöglichen“, sagt der Sprecher der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Kliniken bräuchten zum Beispiel die Rechtssicherheit, dass sie Telefon- und Videokontakte erbringen dürfen und diese auch wie andere Therapien abgerechnet werden können.

Wenn Patienten um Hilfe ersuchen würden, bemühen sich die Kliniken mit allen Möglichkeiten, Patienten auch zu versorgen. „Der Kontakt zu den Patienten soll unbedingt gehalten werden, um frühzeitig zu erkennen und zu reagieren falls Patienten in eine psychische Krise geraten“, sagt der Sprecher.

Seriöse Zahlen dazu, wie viele psychische Erkrankte nun notgedrungen aus der Distanz therapiert werden müssen, gibt es nicht. Sie dürften aber in die Zehntausende gehen. Pro Jahr werden laut Statistischem Bundesamt 800.000 stationäre Behandlungen durchgeführt. In den Tagesklinik-Einrichtungen der Psychiatrien, also der sogenannten teilstationären Behandlung tagsüber, zählt das Bundesamt 150.000 Patienten.

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    „Soziale Isolation kann psychische Störungen verstärken“

    Schwerwiegende Folgen könnte die Corona-Krise vor allem für zwei Patientengruppen haben: Menschen mit Angst- und Zwangsstörungen, deren Krankheitsverläufe sich durch die reale Corona-Gefahr verschlimmern. Und Kinder und Jugendliche. Davor warnt Professorin Christine M. Freitag, die Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Goethe-Universität in Frankfurt. Sie ist auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.

    „Wir erleben, dass einige Patienten mit Ängsten und Zwängen bereits schlimmere Verläufe haben, die intensiver therapiert werden müssen“, sagt Freitag. Experten gehen davon aus, dass sogenannte Kontaminationsängste (z.B. die Angst sich über Türklinken etc. zu infizieren) und das bei Depressiven oder krankhaft ängstlichen Menschen verbreitete Rückzugsverhalten durch die Krise noch verstärkt werden. Zudem sind in Zeiten von Kontaktverboten viele Therapiebausteine wie der „Aufbau von sozialen Kontakten“ eingeschränkt.

    Professorin Freitag fordert zudem eine baldige Wiedereröffnung von Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten – Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen würden viele Familien vor enorme Herausforderungen stellen. „Vor allem in engen Wohnsituation en birgt das großes Gewaltpotenzial.“ Dabei gelte: Je schlimmer die psychische Erkrankung des Kindes, desto mehr Gewalt gegen das Kind oder in der Familie sei zu erwarten.

    „Deshalb müssen langfristige Hygiene-Konzepte an Schulen unbedingt in die politischen Überlegungen miteinbezogen werden. Es geht schließlich um unsere Zukunfts-Generation, die vor langfristigen negativen Folgen geschützt werden muss“, sagt Freitag.

    Insbesondere die deutschlandweite Kontaktsperre könne auch laut anderen führende Psychiatern schwere psychische Folgen haben: „Soziale Isolation ist ein wesentlicher Stressfaktor und kann psychische Störungen verstärken“, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN), Andreas Heinz, unserer Redaktion in der vergangenen Woche.

    „Wir befürchten, dass beispielsweise die Zahl der Suizide steigen könnte, wenn die Kontaktsperre länger als zwei, drei Wochen anhalten sollte.“ In Deutschland leiden Experten zu Folge rund 30 Prozent der Menschen unter psychischen Belastungen. Sie reichen von leichten Angststörungen bis zu schweren Psychosen. Die drastischen Einschränkungen in der Corona-Krise werfen damit auch die Frage auf, ob die sozialen und psychischen Folgen die medizinischen schließlich noch übertreffen.

    • Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.

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