Berlin. Deutsche Forscher haben nahe Istanbul tektonische Spannungen gemessen. Ein Erdbeben ist wahrscheinlich – und hätte schlimme Folgen.

16 Millionen Einwohner – und die Angst vor zwei Platten: Istanbul liegt an der Grenze zwischen zwei Erdplatten. Wenn diese aneinanderstoßen, wird es für die türkische Stadt mit höchster Wahrscheinlichkeit fatal. Denn Experten rechnen mit einem verheerenden Erdbeben. Deutsche Forscher haben die Bedrohungslage präzisiert.

Tatsächlich habe sich zwischen den Platten bereits eine enorme Spannung aufgebaut – die sich irgendwann entladen werde. Viele Einwohner haben sich auf den Tag X vorbereitet. Nicht wissend, ob sie ihn erleben werden. Aber im Bewusstsein, dass – sollte es passieren – es schnell um ihr Leben geben kann.

Die liegt an der sogenannten Nordanatolischen Störung, einer Grenze zwischen der eurasischen und der anatolischen Erdplatte. Auf ein mögliches Erdbeben bereiten sich die Menschen unterschiedlich vor:

  • Firmen entwerfen Notfallpläne
  • Privatleute haben sogenannte Go-Bags mit allem Nötigen fertig gepackt neben Haustüren stehen
  • Schulen bringen Kindern bei, wie sie sich zu benehmen haben, wenn die Erde wackelt

Wissenschaftler um den Kieler Geophysiker Dietrich Lange vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung haben nun vor den Toren der Stadt erhebliche tektonische Spannungen entdeckt. Sie würden reichen, um ein Beben der Stärke 7,1 bis 7,4 auszulösen, schreiben sie im Fachblatt „Nature Communications“.

So verwüstete das Beben die türkischen Region Denizli

Im Westen der Türkei bebte am Mittwochvormittag die Erde. Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD hatte das Beben eine Stärke von 5,5 auf der Richterskala.
Im Westen der Türkei bebte am Mittwochvormittag die Erde. Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD hatte das Beben eine Stärke von 5,5 auf der Richterskala. © imago images / Depo Photos | Meric Ulukusvia www.imago-images.de
Das Beben ereignete sich in der Region Denizli nahe der Gemeinde Acipayam. Unter anderem stürzte eine Scheune ein und begrub 16 Rinder unter sich.
Das Beben ereignete sich in der Region Denizli nahe der Gemeinde Acipayam. Unter anderem stürzte eine Scheune ein und begrub 16 Rinder unter sich. © imago images / Depo Photos | Meric Ulukusvia www.imago-images.de
Die Tiere harrten unter den Trümmern aus und konnten befreit werden.
Die Tiere harrten unter den Trümmern aus und konnten befreit werden. © imago images / Depo Photos | Meric Ulukusvia www.imago-images.de
Allerdings wurden zahlreiche Gebäude beschädigt. 15 Häuser mussten abgerissen werden, 50 Gebäude wurden beschädigt.
Allerdings wurden zahlreiche Gebäude beschädigt. 15 Häuser mussten abgerissen werden, 50 Gebäude wurden beschädigt. © imago images / Depo Photos | Meric Ulukusvia www.imago-images.de
In der Ägäis ist das Erdbeben-Risiko generell hoch. Das liegt an den Verschiebungen der tektonischen Platten. Bei dem Beben am Mittwoch gab es einige Leichtverletzte.
In der Ägäis ist das Erdbeben-Risiko generell hoch. Das liegt an den Verschiebungen der tektonischen Platten. Bei dem Beben am Mittwoch gab es einige Leichtverletzte. © imago images / Depo Photos | Meric Ulukusvia www.imago-images.de
Einige Häuser brachen nahezu komplett zusammen.
Einige Häuser brachen nahezu komplett zusammen. © imago images / Depo Photos | Meric Ulukusvia www.imago-images.de
Auch in den Innenräumen der Häuser waren die Schäden sichtbar. In einem Krankenhaus mussten die Patienten sogar in ihren Betten nach draußen gebracht werden.
Auch in den Innenräumen der Häuser waren die Schäden sichtbar. In einem Krankenhaus mussten die Patienten sogar in ihren Betten nach draußen gebracht werden. © imago images / Depo Photos | Meric Ulukusvia www.imago-images.de
Die Katastrophenschutzbehörde reiste mit mehreren Teams in die betroffene Region. Es wurden teils Warnungen ausgesprochen, dass Häuser nicht betreten werden dürften.
Die Katastrophenschutzbehörde reiste mit mehreren Teams in die betroffene Region. Es wurden teils Warnungen ausgesprochen, dass Häuser nicht betreten werden dürften. © imago images / Depo Photos | Meric Ulukusvia www.imago-images.de
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Erdbeben in Istanbul: Neues Messsystem zeigt, wie groß die Bedrohung ist

Der untersuchte Abschnitt der Nordanatolischen Störung liegt unter dem Marmarameer, also unter Wasser. Ob sich die Plattengrenzen dort bewegen oder verhaken, konnte bisher nur indirekt untersucht werden, zum Beispiel mit Beobachtungen von Land.

Nun haben die Forscher zweieinhalb Jahre lang mit dem am Geomar entwickelten Messsystem GeoSEA Daten in 800 Metern Wassertiefe gesammelt. Durch sogenannte akustische Abstandsmessungen sei erstmals eine direkte Messung der Plattenbewegung möglich geworden, heißt es in einer Geomar-Mitteilung.

 Istanbul und die Umgebung im Nordwesten der Türkei, aufgenommen vom MERIS-Gerät vom Satelliten Envisat der European Space Agency (ESA). Im Norden liegt das Schwarze Meer, das über die Bosporusstraße mit dem Marmarameer (Mitte) verbunden ist. Die Dardanellenstraße verbindet die Marmara mit dem Ägäischen Meer (untere linke Ecke).
Istanbul und die Umgebung im Nordwesten der Türkei, aufgenommen vom MERIS-Gerät vom Satelliten Envisat der European Space Agency (ESA). Im Norden liegt das Schwarze Meer, das über die Bosporusstraße mit dem Marmarameer (Mitte) verbunden ist. Die Dardanellenstraße verbindet die Marmara mit dem Ägäischen Meer (untere linke Ecke). © dpa | Envisat

Möglich sind Ausmaße wie beim Beben in Izmit 1999 – mit 17.000 Toten

„Zu starken Erdbeben kommt es, wenn sich die Störungszone verhakt. Dann bauen sich tektonische Spannungen auf, die sich irgendwann in einem Moment entladen“, sagte Lange. Die neuen Messungen seien der erste direkte Nachweis über den Spannungsaufbau am Meeresboden südlich von Istanbul.

„Wenn sich die angestaute Spannung während eines Erdbebens löst, würde sich die Verwerfungszone auf einen Schlag um mehr als vier Meter bewegen“, sagte GeoSEA-Projektleiterin Heidrun Kopp. Ein solches Ereignis könnte laut der Geomar-Mitteilung für Istanbul ähnlich weitreichende Folgen haben wie ein Beben 1999 für die Stadt Izmit, die ebenfalls an der Nordanatolischen Störungszone liegt. Damals waren mehr als 17.000 Menschen gestorben.

Schwere Schäden wahrscheinlich – viele verdrängen die Gefahr

Izmit: Bei einem Erdbeben in der türkischen Stadt starben 1999 mehr als 17.000 Menschen.
Izmit: Bei einem Erdbeben in der türkischen Stadt starben 1999 mehr als 17.000 Menschen. © imago/UPI Photo | imago/UPI Photo

Wann das nächste große Beben komme, sei unklar. „Wir sind nicht in der Lage, den Zeitpunkt zu prognostizieren“, sagte Kopp der Deutschen Presse-Agentur. Die Forscher wollten mit der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse „keine Panik auslösen.“ Sie rechnen zwar nicht mit einer verheerenden Tsunami-Welle, aber mit schweren Schäden in Istanbul.

In der Stadt selbst wird die latente Gefahr immer wieder ignoriert. Jedes Jahr stürzen schlecht gebaute Wohnhäuser ein – unter anderem mürbe gemacht durch die vielen kleineren Erdbeben, die Istanbul regelmäßig erschüttern. Stadtplaner wie die bekannte Architektin Mücella Yapici warnen seit Jahren, dass große offene Flächen, die im Zentrum als Zufluchtsorte eingetragen wurden, längst zugebaut sind.

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    An einer deutschen Schule in Istanbul lernen Schüler, mit Trillerpfeifen auf sich aufmerksam zu machen, falls sie verschüttet werden. Wer Glück hat, wohnt in einem neuen und verantwortungsbewusst gebauten Mietshaus – oder in einem alten, das nachträglich mit dicken Stahlbetonsäulen verstärkt wurde. In manchen Häusern ziehen diese Säulen sich wie ein Rückgrat mitten durch die Wohnzimmer.

    Im März hatte es ein Erdbeben in der Türkei gegeben – Schulen und ein Krankenhaus sind evakuiert worden. Aktuell hatte der Ausbruch des Vulkans Stromboli auf der italienischen Insel die Erde beben lassen. Im Juni wurde Rom von einem Erdbeben erschüttert – nur kurze Zeit, nachdem in Griechenland auch Athen gewackelt hatte.

    Eine App warnt Reisende im Urlaub vor Katastrophen. (ses/dpa)