Lügde. Nach Behördenpannen steht die Polizei im Missbrauchsskandal von Lügde wieder am Anfang. Der Tatort musste noch mal durchsucht werden.

„Ponyhof“ heißt das Brettspiel, das die Beamten aus der Hütte geholt und direkt neben einen Minnie-Maus-Rucksack in einen großen weißen Container gelegt haben. Aber die heruntergekommene Mixtur aus Wohnwagen und Bretterverschlagen auf dem Campingplatz „Eichwald“ bei Lügde war alles andere als ein Ponyhof. Für über 30 Kinder war sie die Hölle.

Hier sollen Andreas V. (56) und mehrere Mittäter sie über Jahre missbraucht und dabei gefilmt haben.

Es ist einer der größten Missbrauchsfälle der deutschen Geschichte. Aber knapp drei Monate, nachdem der Hauptverdächtige in Untersuchungshaft genommen worden ist, mehr als 30 Tage, nachdem die Ermittlungen öffentlich geworden sind, steht die Polizei nach einer langen Kette von Fehlern wieder ganz am Anfang.

Man müsse „bei null beginnen“, räumte in dieser Woche der Sonderermittler des Landeskriminalamtes ein, den Innenminister Herbert Reul nach Lügde geschickt hat. Dann sprach er von „fachlich ungenügenden Ermittlungen“ und „schweren handwerklichen Fehlern“ der Kollegen im Kreis Lippe. Mittlerweile hat die Polizei in Bielefeld den Fall übernommen.

Erst jetzt wird der Tatort gründlich durchsucht

„Wochenlang ist hier kaum etwas passiert“, sagt ein Mann, der in der Nachbarschaft des Platzes wohnt. Kaum gesichert sei die Hütte des Verdächtigen lange Zeit gewesen. Siegel an den Türen, ein bisschen Flatterband davor. „Mehr war nicht“, behauptet der Rentner, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Da hätte jeder reingekonnt.“

Landtag untersucht Missbrauchsskandal von Lügde

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    Seit Mitte dieser Woche hat sich das geändert. Da haben Polizisten einen hohen grünen Sichtschutzzaun um die Parzelle aufgebaut, sind dann in weiße Spurensicherungsanzüge gestiegen und haben damit begonnen, die Hütte auszuräumen. Das sei, sagt Polizeisprecher Michael Kötter, „eine sehr kleinteilige Arbeit“, denn: „Wir können hier nicht von geordneten Wohnverhältnissen sprechen.“ Die Nachbarn formulieren es noch klarer: „Das war ein Drecksloch.“

    Diensthundeführer Jörg Siebert geht mit seinem Belgischen Schäferhund Artus, der auf Datenträger spezialisiert ist, an der abgesperrten Parzelle des mutmaßlichen Täters auf dem Campingplatz Eichwald in Lügde vorbei.
    Diensthundeführer Jörg Siebert geht mit seinem Belgischen Schäferhund Artus, der auf Datenträger spezialisiert ist, an der abgesperrten Parzelle des mutmaßlichen Täters auf dem Campingplatz Eichwald in Lügde vorbei. © dpa | Guido Kirchner

    Stundenlang tragen die Einsatzkräfte auch am Freitag Müll und Kleidung nach draußen, bauen beschmierte Computer und Drucker ab, nehmen bunte Kinderzeichnungen von den Wänden, wühlen sich durch Berge von Kleidung. Alles wird auf Campingtischen durchgesehen und anschließend katalogisiert. Aber bevor es abtransportiert wird, kommt „Artus“.

    Der Belgische Schäferhund – zusammen mit Hundeführer Jörg Siebert stationiert in Sachsen – ist der einzige Datenspürhund Deutschlands. Auch in Lügde wird er fündig, entdeckt in der Ritze eines Sessels einen USB-Stick, der bisher übersehen worden war. Was darauf gespeichert ist, verrät die Polizei bisher nicht. „Die Auswertung läuft“, sagt Michael Kötter.

    Anwohner schimpt über „Ermittlungen wie in einer Bananenrepublik“

    Ein paar Kilometer weiter unten im Dorf winken sie ab. „Ich trau keinem mehr in dieser Sache“, sagt der 76-jährige Werner Schüssler (Name geändert) bei einer Tasse Kaffee in einer Bäckerei. Nicht beachtete Hinweise, verschwundene Beweismittel – „das waren doch Ermittlungen wie in einer Bananenrepublik“.

    Sein Bekannter geht noch einen Schritt weiter. „Ich würde mich nicht wundern, wenn da gezielt etwas vertuscht worden ist.“ Zur Kritik an der Polizei gesellt sich bald Unverständnis für den Campingplatzbetreiber. „Der hätte doch was merken müssen.“

    Frank Schäfsmeier weiß, dass sie so über ihn reden im Ort. „Wenn das woanders passiert wäre, würde ich wahrscheinlich ähnlich denken.“ Aber es ist in Lügde passiert, vor seiner Tür, auf dem Campingplatz, den seine Familie seit vielen Jahrzehnten betreibt. Immer wieder, sagt der 54-Jährige, habe er sich seit Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Andreas V. gefragt: „Was hätte ich merken können?“

    Lügde sorgt sich um seinen Ruf

    Ja, eigentlich habe er mehr darauf achten müssen, dass V. Ordnung halte auf seiner Parzelle. „Früher sah es dort allerdings nicht so schlimm aus.“ Trotzdem habe er sich gewundert, dass ein alleinstehender Mann, der in einem Wohnwagen lebt, das Sorgerecht für ein kleines Mädchen bekommen habe. „Aber wenn das Jugendamt das so entscheidet.“

    „Was hätte ich merken können?“, fragt sich Campingplatzbetreiber Frank Schäfsmeier.
    „Was hätte ich merken können?“, fragt sich Campingplatzbetreiber Frank Schäfsmeier. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

    „Ich kann das alles immer noch nicht fassen“, sagt Schäfsmeier. Wie es weitergeht für ihn und seine Familie? Schulterzucken. Noch habe keiner seiner 200 Dauercamper gekündigt, sagt er. „Aber neue Kurzzeitcamper werden wohl weniger kommen in Zukunft.“

    Unten im Ort sorgt man sich derweil um den guten Ruf. Seit Jahrzehnten, sagt eine ältere Dame in der Fußgängerzone, werde der Name Lügde mit dem bekannten Brauch der brennenden Osterräder verbunden. Das könnte sich nun ändern, glaubt sie. So wie in Gladbeck nach dem Geiseldrama oder in Höxter durch das Horrorhaus. „Wer künftig den Namen Lügde hört“, fürchtet die Rentnerin, „wird immer zuerst an missbrauchte Kinder denken.“

    Der Fall Lügde hat auch zu intesivierten Ermittlungen in anderen Fällen gesorgt - zum Beispiel in Bad Oeynhausen: Heilpraktiker soll in Praxis Kinderpornos aufgenommen haben (dpa)