Oldenburg. Es ist die wohl größte Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte: Wieso tötete Ex-Pfleger Niels Högel die Menschen? Nun sagt er aus.

Zu Beginn des dritten Verhandlungstages hat sich der bereits verurteilte Patientenmörder Niels Högel im neuen Prozess um 100 weitere Taten bei den Familien der Opfer entschuldigt. „Wenn es einen Weg geben würde, der Ihnen helfen würde, dann würde ich ihn gehen, glauben Sie mir“, sagte der 41-Jährige am Donnerstag vor dem Landgericht Oldenburg.

Högel weiter: „Mittlerweile sitze ich hier in voller Überzeugung, jedem Angehörigen eine Antwort zu geben. Es tut mir wirklich leid.“ Wenn er die Fotos derjenigen sehe, die durch ihn ihr Leben verloren haben, löse dies bei ihm heute Traurigkeit und Leid aus, sagte er.

Der frühere Krankenpfleger ist wegen des Todes von sechs Patienten in Delmenhorst bereits zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm in dem neuen Prozess vor, 100 Patienten in Oldenburg und Delmenhorst zwischen Februar 2000 und Juli 2005 zu Tode gespritzt zu haben.

Befragung zu einzelnen Fällen

Wie bereits am Vortag befragte Richter Sebastian Bührmann den Angeklagten in der Weser-Ems-Halle zu einzelnen Fällen. Dabei stand zunächst ein Wochenende im Fokus, an dem auf der herzchirurgischen Intensivstation der Oldenburger Klinik besonders viele Menschen reanimiert werden mussten.

Nach Högels Erinnerungen waren es fünf oder sechs in einer Nacht. Bührmann sagte, im polizeilichen Vernehmungsprotokoll sei die Nacht vom 14. auf den 15. September 2001 „reißerisch“ als „Nacht der Reanimation“ bezeichnet worden.

Der Richter befragte Högel zu drei Todesfällen in dieser Nacht. Er erinnerte sich, zwei Männern Ajmalin, ein Medikament zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen, verabreicht zu haben. An den dritten habe er keine Erinnerung, sagte Högel. Er könne aber nicht ausschließen, auch diesen absichtlich in Todesgefahr gebracht zu haben.

Kaum Erinnerung an die Gesichter der Opfer

Bis zum Mittag befragte Bührmann den 41-Jährigen zu insgesamt 14 Fällen. An neun „Manipulationen“ konnte sich Högel erinnern, bei einem weiteren Mann, der Ende September 2001 starb, sei er sicher, dass er nichts getan habe. Zu den weiteren vier Patienten fehle ihm jede Erinnerung.

Niels Högel mit seiner Anwälting Ulrike Baumann am dritten Verhandlungstag.
Niels Högel mit seiner Anwälting Ulrike Baumann am dritten Verhandlungstag. © Getty Images | Pool

Allerdings wollte er erneut nicht ausschließen, für ihren Tod verantwortlich zu sein. Am Mittwoch waren bereits 26 Fälle verhandelt worden. In 14 Fällen räumte Högel dabei ein, an Patienten „manipuliert“ zu haben. In einem schloss er es aus. Wegen sechs weiterer Taten verbüßt Högel bereits eine lebenslange Haftstrafe.

Technik wichtiger als der Mensch

Högel sagte, er erinnere sich vor allem an die Krankengeschichten seiner Opfer, dagegen kaum bis gar nicht an ihre Gesichter. Er habe mehr auf die Überwachungsmonitore als auf die Menschen geachtet. Durch Schläuche, Verbände und Katheter hätten sich alle Gesichter geähnelt.

„Für mich war die Technik wichtiger als der Mensch.“ Als zwei Anwälte dem Angeklagten Fotos von seinen mutmaßlichen Opfern vorlegen lassen, schüttelte der nur mit dem Kopf: „Nein – keine Erinnerung.“

Bei der Befragung wurde deutlich, dass in Oldenburg Ärzte und Kollegen misstrauisch wurden. Ein Arzt habe bei ihm in einer Pause eine aufgezogene Spritze in der Kitteltasche entdeckt und einige Tropfen ihres Inhalts auf seiner Brille verrieben. „Wäre es Kalium gewesen, hätten sich weiße Rückstände gebildet“, erläuterte Högel. Doch in diesem Fall sei es lediglich eine Kochsalzlösung zum Spülen der Katheterschläuche gewesen.

Niels Högel räumte die Vorwürfe ein

Nach Ansicht der Ermittler spritzte Högel seinen Opfern Medikamente in tödlicher Dosis, um sie danach wiederbeleben zu können. Dadurch wollte er seine Kollegen mit seinen Reanimationskünsten beeindrucken.

Der aktuelle Prozess läuft seit gut drei Wochen. Zum Auftakt hatte Högel die Vorwürfe mehrheitlich eingeräumt.

Niels Högel hatte Morde weitgehend zugegeben

Empathielos und eiskalt – so beschreibt sich der Angeklagte aus heutiger Sicht. Der Tod von Patienten habe ihn damals nicht berührt. „Trauer habe ich in dem Sinne nicht empfunden“, sagte er bereits am Mittwoch. Heute fühle er angesichts seiner Taten Scham und Ekel vor sich selbst.

Vor drei Wochen hatte Högel am ersten Verhandlungstag vor der 5. Strafkammer des Oldenburger Landgerichts die Morde weitgehend eingeräumt. Der Prozessauftakt war bedrückend.

Ex-Krankenpfleger gesteht Patientenmorde

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    Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft ermordete er dort erstmals im Februar 2000 eine Patientin. In den nächsten Jahren soll er immer wieder kranken Menschen eine tödliche Medikamentendosis gespritzt haben, um diese anschließend wiederbeleben zu können. Meist war es eine Überdosis Insulin. Später wechselte Högel ans Klinikum Delmenhorst und tötete dort erneut Patienten.

    Der Prozess gegen Niels Högel findet in den Weser-Ems-Hallen statt.
    Der Prozess gegen Niels Högel findet in den Weser-Ems-Hallen statt. © dpa | Julian Stratenschulte

    Die wohl größte Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte nahm erst ein Ende, nachdem eine Krankenschwester Högel im Sommer 2005 auf frischer Tat erwischte. Dennoch dauerte es Jahre und zwei Gerichtsverfahren, bis das gesamte Ausmaß der Verbrechen ans Licht kam.

    Das Oldenburger Gericht hat bislang 23 Verhandlungstage anberaumt. Das öffentliche Interesse an dem Fall ist groß. So groß, dass der Prozess in die Oldenburger Weser-Ems-Halle verlegt wurde.

    In dem Verfahren treten etwa 120 Nebenkläger auf. Sie wollen in dem neuen Prozess erfahren, was mit ihren Verwandten geschehen ist und warum diese sterben mussten. Erste Zeugen sollen im Januar gehört werden. (dpa/epd/sdo/ba)