Köln/Dhaka. Vor 13 Jahren fällt in Wesseling bei Köln ein Zettel aus einem Kleidungsstück. Es ist der Beginn einer Freundschaft von zwei Familien.

Claudia Klütsch (53) – das sollte man gleich zu Anfang schreiben – hat diese rheinische Fröhlichkeit und einen für die Mentalität dort typischen Tatendrang, der von Herzen kommt und wirkt. Es sind diese Eigenschaften, die sie Teil eines Märchens werden ließen. Zumindest einer Geschichte, die sich so anhört wie ein solches und glücklicherweise andauert.

Sie beginnt vor genau 13 Jahren. Die vierfache Mutter und Arzthelferin aus Wesseling bei Köln hat mit ihrer Tochter in der Metro Hemden gekauft. Als sie diese noch einmal auswaschen will, fällt ihr beim Auspacken ein Zettel entgegen. Auf diesem steht in Handschrift geschrieben: „Ich bin ein armer Mann. Ich brauche Geld. Bitte helfen Sie mir. Gott schütze Sie.“ Und eine Adresse in Bangladesh.

Claudia Klütsch lässt der Zettel keine Ruhe mehr

Sofort läuft sie zu ihrem Mann Martin in die Küche. Es ist Wochenende, er liest Zeitung. „Mir war sofort klar, da muss man doch was tun“, erzählt sie unserer Redaktion. Ihr Mann zuckt zunächst mit den Schultern. „Schmeiß ihn doch weg“, rät er ihr. Doch Claudia Klütsch lässt der Zettel keine Ruhe mehr.

Sie recherchiert im Internet, findet eine Adresse zur Artikelnummer des Hemdes, schreibt einen Brief dorthin, legt 30 Euro hinein, wartet acht Wochen. Dann bekommt sie Antwort. Einen Brief aus Bangladesch mit Fotos von einem 30-jährigen Mann namens Gazi und seiner 25-jährigen Frau Raija darin.

Ehepaar Klütsch will das Paar kennenlernen

Claudia Klütsch studiert das Schreiben mehrere Male und beschließt zu helfen. Hinzufahren. Denn von Anfang an ist ihr klar: Wenn sie dort regelmäßig Geld hinschickt, will sie mehr über das Paar auf den Fotos erfahren.

© Blanvalet Verlag/Randomhouse | Blanvalet Verlag/Randomhouse

Einige Wochen später im Jahr 2006 sitzen Claudia Klütsch und ihr Mann im Flieger nach Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Für sie ist es die erste Flugreise ihres Lebens. Bislang hatte die Familie häufig am Ostseestrand Urlaub gemacht. Der erste Eindruck der Acht-Millionen-Metropole im Landesinneren überwältig sie verständlicherweise.

Der Weg führt zu einem Dorf in Bangladesch

„Ich habe so viel Armut gesehen, Menschen, die auf der Straße liegen, von denen man nicht weiß: Was ist mit denen, sind die tot? Brauchen die sofort Hilfe“, erinnert sich Klütsch. Sie habe sofort helfen wollen, war ratlos. „Mein Mann beruhigte mich dann, und sagte: ,Wir sind hier um Gazi zu helfen. Das machen wir jetzt.‘“

Erst zwei Tage später erreichen die Klütschs das Dorf, in dem Gazi und seine Familie bis heute leben. Ein bewaldetes Stück, in dem Wellblechhütten stehen. Im anliegenden Gewässer baden Kinder in einer braunen Brühe. Einige haben Pusteln am Körper und Ekzeme.

Bangladesch ist abhängig von Textilindustrie

Dass die chemikalischen Restbestände des Textilindustrie in Bangladesch meist ungefiltert in den Gewässern landen, erfahren die Klütschs erst später. 75 Prozent der weltweiten Exporte aus Bangladesch sind Textilien. Zwei Millionen Arbeiter, vor allem Frauen, schuften in etwa 3000 Fabriken, oft zu Stundenlöhnen um die zehn Cent.

Als Gazi den Zettel ins Hemd steckte, arbeitete er noch an der Teajgoang Road in Dhaka, als Vorarbeiter in der Verpackungsabteilung einer Textilfabrik. Als er die Klütschs kennenlernt, ist er jedoch arbeitslos.

Claudia Klütsch „adoptierte“ eine Familie

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Und so steckt viel Hoffnung für ihn im Besuch der Klütschs. Der Empfang ist herzlich. Gazi und seine hochschwangere Frau zeigen der Familie aus Deutschland ihr Zuhause, in gebrochenem Englisch gelingt eine Unterhaltung. Und irgendwann bricht das Eis.

„Als Raija dann zum ersten Mal meine Hand nahm bei unserem ersten Abschied, sind dann bei mir alle Dämme gebrochen“, erzählt Claudia Klütsch. „Wir lagen uns in den Armen, wir haben viel geweint. Ich habe dann zu meinem Mann gesagt, dass wir nun eine Familie adoptiert haben.“

Hilferuf in der Nacht: Gazis Frau braucht Kaiserschnitt

Die erste Bewährungsprobe dieser besonderen Freundschaft soll wenige Wochen später folgen. Zurück in Wesseling bekommen die Klütschs eines Nachts einen Anruf. Es ist Gazi. „Er rief mehrmals ins Telefon ,Baby, Raija‘ und war völlig aufgelöst“, erinnert sich Claudia Klütsch. Nach ein paar Minuten erklärt ein Arzt ihr dann am Telefon, dass Gazis Frau sofort einen Kaiserschnitt benötige und sonst sterben würde.

Klütsch reagiert sofort, holt das Faxgerät aus dem Keller, schickt eine Kostenübernahme. Martin-Raquibul, das erste Kind von Raija und Gazi, kommt Minuten später gesund zur Welt und ist heute 13 Jahre alt. Und von ihrem letzten Besuch vor einiger Zeit in Bangladesch weiß die deutsche Familie: Er geht zur Schule und will eines Tages einen Beruf ergreifen – in Bangladesch keine Selbstverständlichkeit. Viele von Martin-Raquibuls Freunden arbeiten mit 13 Jahren längst in Textilfabriken.

Familie hat mit deutscher Hilfe ein Haus gebaut

Das Haus, in dem Gazi mit seiner Familie jetzt lebt.
Das Haus, in dem Gazi mit seiner Familie jetzt lebt. © Blanvalet Verlag/Randomhouse | Blanvalet Verlag/Randomhouse

Auch hat Gazi für seine Frau und mittlerweile zwei Söhne von den 80 Euro, die ihm die Klütschs bis heute monatlich überweisen, aus 30.000 Steinen ein Haus gebaut. Er arbeitet immer noch in einer Textilfabrik – pflegt seine Eltern, die in seinem Haus leben.

Und auch die Klütschs denken an ihre Zukunft: „Mein Mann und ich überlegen tatsächlich, in zehn Jahren nach Bangladesch zu ziehen, als Entwicklungshelfer“, erzählt Claudia Klütsch. Denn im Leben, so glaubt sie, „findet man sich. Auch durch Zufall“. Ebenso wie Gazis Zettel sie gefunden hat.