London. Als der Londoner Grenfell Tower vor einem Jahr in Kensington brennt, sterben 72 Menschen. Die Untersuchungen dauern noch immer an.

Es ist ein düsteres Mahnmal, das da in den Himmel über London ragt. In der nordwestlichen Ecke, der Armenecke des „Königlichen Stadtbezirks von Kensington und Chelsea“, steht die Ruine des Grenfell Towers: ein 74 Meter hohes Grabmal, das bis zum obersten Stockwerk ausgebrannt ist. Die schwarz verrußte Außenhaut: zerfetzt, zerbeult. Voller Löcher dort, wo die Fensterscheiben barsten.

Jetzt, ein Jahr nach der Katastrophe, hat man den Bau eingerüstet und mit Planen verdeckt. Aber jeder weiß: Hier steht der Turm der Schande. Und solange die juristische Aufarbeitung nicht abgeschlossen ist, bleibt der Turm stehen – erst dann wird er vermutlich abgerissen. „Wenn ihr sehen wollt, wie die Armen sterben“, beginnt ein Gedicht des Lyrikers Ben Okri, „kommt und seht den Grenfell Tower.“ 72 Menschen, so die offizielle Angabe, sind hier gestorben.

Hochhausbrand steht für Spaltung der Gesellschaft

Großbritannien erlebte die größte Feuerkatastrophe der Nachkriegszeit, als in der Nacht zum 14. Juni ein explodierender Kühlschrank einen Brand in einer Wohnung im vierten Stock des Grenfell Towers auslöste. Binnen Minuten breiteten sich die Flammen über die brennbare Außenfassade des Wohnblocks in die oberen Stockwerke aus. Für viele gab es kein Entkommen aus der Feuerfalle.

Grenfell Tower London

weitere Videos

    Das Schicksal der Opfer und der Überlebenden wühlte die britische Nation mehr auf als die vier Terroranschläge in den drei Monaten davor. Durch Anschläge von Extremisten werden Briten in ihrer stoischen Mentalität geeint. Doch die Katastrophe des Hochhausbrandes in Nord-Kensington hatte den umgekehrten Effekt: Der Hochhausbrand steht für die Spaltung der Gesellschaft. Das Gefühl, das viele Briten mit Grenfell verbinden, sagt ihnen: Etwas ist zutiefst falsch, etwas ist ganz und gar aus dem Ruder gelaufen. Grenfell ist keine Katastrophe, die in irgendeiner Weise kathartisch wirkt. Stattdessen ist Grenfell eine offene Wunde.

    562 Teilnehmer sollen bei der Untersuchung Gehör finden

    Wie konnte es dazu kommen, dass in einem der reichsten Länder der Welt und in einem der wohlhabendsten Stadtbezirke Londons ein solches Unglück passieren konnte? War es selbst verschuldet? War es vermeidbar? Warum hat niemand auf die Anwohner gehört, die seit Jahren über den mangelnden Brandschutz klagten? Wer kam auf die Idee, einen Betonbau mit einer Fassade zu umhüllen, die als Brandbeschleuniger diente? War der Grund etwa, das hässliche Gesicht des Sozialbaus aufzuhübschen?

    Auf diese Fragen versucht jetzt eine Untersuchungskommission, eine Antwort zu finden. Es ist eine Untersuchung epischen Ausmaßes, nicht nur, weil 562 Teilnehmer Gehör finden wollen oder sollen – Hunderte Überlebende und ihre Angehörigen. Mohammed Hakim berichtete, wie fünf Mitglieder seiner Familie ihr Leben verloren. Weil sein 82 Jahre alter Vater nach zwei Schlaganfällen nicht mehr laufen konnte, blieben seine Frau und drei Kinder mit ihm in der Wohnung, bis es zu spät war, sich zu retten.

    Viele Überlebende sehen die Katastrophe als hausgemacht

    „Mein Vater hätte nicht im 17. Stock leben sollen“, sagte Hakim, „wir haben uns immer beschwert, aber nichts geschah.“ Schmerz und Wut wurden auch spürbar, als Hisam Choucair über das Schicksal von fünf Verwandten sprach: „Wir mussten über Stunden mitansehen, wie sie schließlich in den Flammen umkamen. Ich muss damit leben, dass meine Familie auseinandergerissen wurde. Es ist keine Tragödie, es ist eine Gräueltat.“

    Wie Choucair sehen viele Überlebende die Katastrophe von Grenfell als hausgemacht. Sie wollen Verantwortliche dafür zur Rechenschaft gezogen sehen, wie zum Beispiel die zuständigen Beamten in der Kommunalverwaltung, die einschlägige Warnungen über Mängel beim Brandschutz ignorierten.

    Fassadenverkleidung aus Aluminium beschleunigte den Brand

    Tatsächlich lief bei dem Inferno schief, was nur schieflaufen konnte. Die Brandschutzexpertin Barbara Lane listete vor der Untersuchungskommission die Fehler auf: Die Fassadenverkleidung aus Aluminium und dem Kunststoff Polyethylen habe den Brand rasant beschleunigt. Das Rauchabzugssystem habe nicht funktioniert, und die Aufzüge hätten versagt. Brandschutztüren hätten gefehlt oder nicht richtig geschlossen.

    Ein Sprinklersystem gab es nicht, ebenso wenig wie einen zweiten Fluchtweg. Der Anwalt der Opfer, Danny Friedman, brachte es auf den Punkt, als er sagte: „Davon kam, wer pures Glück hatte.“ Und nicht, weil es einen angemessenen Brandschutz im Gebäude gegeben hätte.