Amstetten. Vor zehn Jahren wurde Josef Fritzl festgenommen, der seine Tochter 24 Jahre im Keller gefangen hielt und missbrauchte. Ein Ortsbesuch.

Der Weg zum Verlies ist versperrt. Durch das Treppenhaus geht es in einen Hof, dort eine Treppe hinunter. Da unten, versteckt hinter einer geheimen Stahltür, hat Josef Fritzl seine Tochter fast ein Vierteljahrhundert lang eingesperrt und missbraucht.

Der fensterlose Keller mit seinen beiden Kammern und dem Waschraum ist längst Geschichte. Er wurde mit 3000 Tonnen Stahlbeton verfüllt. Der neue Eigentümer, ein Gastwirt, hat das Gebäude im Jahr 2016 für 160.000 Euro gekauft, es renovieren und in einem zarten Apricot streichen lassen. Nun steht im Hof ein Grill.

„Alles ist neu gemacht“, versichert Ali (37), einer der neuen Mieter. „Nur die Fliesen im Treppenhaus sind noch aus der Fritzl-Zeit“, erklärt der Iraner in gebrochenem Deutsch und deutet auf die Wandverkleidung in Beige.

Alteingesessene meiden das Fritzl-Haus

Nichts an diesem zwischen einer Backstube und einer Textilreinigung gelegenen Haus soll an die von der Boulevardpresse sogenannte „Inzestbestie von Österreich“ erinnern. Und doch ist es unmöglich, das Mehrfamilienhaus an der Ybbsstraße zu besuchen, ohne an das Leid der Fritzl-Tochter zu denken.

Josef Fritzl während seines Prozesses im März 2009 im Gericht von St. Pölten.
Josef Fritzl während seines Prozesses im März 2009 im Gericht von St. Pölten. © REUTERS | REUTERS / Ho

Alteingesessene Amstettener meiden es, in den zehn Wohnungen leben Mieter aus fünf Nationen. „Ich wohne seit einem Jahr hier. Den Fall Fritzl kannte ich gar nicht. Erst nach meinem Einzug hat mir jemand erzählt, was es damit auf sich hat“, berichtet Ali. Dann verabschiedet er sich mit einem Handschlag und schließt die Tür – er will nicht mehr über Fritzl sprechen.

Zehn Jahre nach der Befreiung der damals 42-jährigen Frau und ihrer Kinder aus ihrem unterirdischen Verlies verstört die Tragödie noch immer Menschen aus aller Welt. 1984 hatte Josef Fritzl seine Tochter – damals 19 Jahre alt – mit Äther betäubt, sie in den zu diesem Zweck angelegten Geheimkeller geschafft und ans Bett gefesselt.

Kein Laut drang aus dem Verlies nach draußen

Dort hatte der handwerklich begabte Vater mit Dämm-Material jeden Laut nach außen erstickt. „Wir haben unglaubliche Lärm-Tests im Keller gemacht“, sagte Franz Polzer, Chef des niederösterreichischen Landeskriminalamtes, nach Fritzls Festnahme 2008. „Das Verlies war so isoliert – da drang kein Laut nach außen.“

In seinem Keller hatte der ehemalige Elektrotechniker ein 60 Quadratmeter großes Gefängnis angelegt, mit insgesamt acht zum Teil 500 Kilogramm schweren Türen, die per Fernbedienung gesichert waren. Dort begann das Martyrium von Elisabeth Fritzl.

24 Jahre lang durfte sie ihr Gefängnis nicht verlassen. Fritzl war stets bemüht, nach außen die Fassade des ordentlichen Nachbarn aufrechtzuerhalten. Dass er häufig zu Sexurlauben nach Thailand fuhr, hielt er unter Verschluss.

Mit seiner Tochter zeugte Fritzl sieben Kinder

Wie perfide er sein Doppelleben organisierte, zeigte sich, als er seine Tochter als vermisst meldete und die Anteilnahme der Anwohner dankbar annahm. Anscheinend machte sich in der Straße keiner Gedanken darüber, dass Fritzl mit riesigen Einkaufstüten nach Hause kam. Mit den Lebensmitteln ging er nach unten und füllte die ordentlich gezimmerten Kellerregale für seine Gefangenen auf.

Immer wieder vergewaltigte er seine Tochter und zeugte im Lauf der Jahre sieben Kinder. Eines starb im Säuglingsalter, drei von ihnen durften als „Pflegekinder“ oben im Haus bei Fritzl und seiner angeblich nichts ahnenden Ehefrau wohnen. Die drei anderen wuchsen in dem verborgenen Kerker auf. Abgeschottet von der Außenwelt, die Decken teils nur 1,70 Meter hoch.

Am 26. April 2008 wurde Josef Fritzl festgenommen: Eines seiner Inzestkinder war lebensbedrohlich erkrankt. Als Fritzl es ins Krankenhaus fuhr, vertraute sich das Mädchen den Ärzten an. Fritzl gestand alles.

Die Anwohner wollen nicht mehr über den Fall sprechen

Die idyllische 20.000-Einwohner-Stadt Amstetten, anderthalb Autostunden von Wien entfernt, galt plötzlich als „Ort des Grauens“. „Die ganze Straße wurde von Journalisten belagert“, erinnert sich eine Passantin. Jahrelang kamen „Fritzl-Touristen“ nach Amstetten, es gab sogar obskure Angebote, in dem ehemaligen Wohnhaus ein Horrormuseum einzurichten.

„Mittlerweile kommen zum Glück nicht mehr viele“, sagt die Anwohnerin. Auch sie will nicht mehr über Fritzl sprechen: „Der Fall ist geklärt, ich will das nicht wieder aufwärmen.“

Das sagen sie auch in Fritzls früherer Stammkneipe. Dunkle Eichentische und Porzellanteller an den Wänden verströmen österreichische Gemütlichkeit, Männer stehen bei Bier und Zigarette am Tresen. „Ja, Fritzl war oft hier“, bestätigt die Kellnerin. Wie war er, was hat er über seine Familie erzählt? Die Barfrau will darüber nicht sprechen. „Weiß i ned“, sagt sie barsch.

Die Opfer leben unter neuer Identität irgendwo in Österreich

Der ganze Ort wirkt, als sollte Fritzl aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden. Auch im Tourismusbüro, eine Viertelstunde Fußweg von der Ybbsstraße entfernt, ist das Interesse gering. Eine junge Mitarbeiterin will selbst nichts sagen. Sie ruft einen Vorgesetzten an: „Ich soll ausrichten, dass die Stadt in der Sache keine Stellungnahme abgibt.“

Auch die Klinik, in der die Familie nach der Befreiung vorübergehend untergekommen war, teilt mit, „zu den damaligen Geschehnissen“ nichts mehr sagen zu wollen.

Es geht um Opferschutz: Die Fritzl-Tochter und ihre Kinder leben unter neuen Identitäten irgendwo in Österreich. Einmal lauerten Paparazzi des britischen Revolverblatts „The Sun“ der langjährigen Gefangenen auf. Das Bild zeigte eine Frau mit schlohweißem Haar beim Spaziergang. Vor neuen Angriffen auf ihre Privatsphäre wollen die Behörden sie bewahren.

Fritzl sitzt im Hochsicherheitstrakt für „geistig abnorme Rechtsbrecher“

Josef Fritzl bekommt von alldem nichts mit. Er ist heute 83 Jahre alt und wird den Rest seines Lebens in einem Hochsicherheitstrakt für „geistig abnorme Rechtsbrecher“ verbringen. Er ist sich keiner Schuld bewusst. Um im Gefängnis mit seinen ungeschriebenen Hierarchien nicht sofort als Inzestvater erkannt zu werden, hat auch er einen neuen Namen angenommen. Es heißt, er sei mittlerweile dement.