Berlin. Der Hund Chico hat zwei Menschen getötet, doch viele fühlen mit ihm. Wir haben einen Experten gefragt, woher diese Tierliebe kommt.

In der vergangenen Woche haben mehr als 280.000 Menschen eine Petition für das Überleben eines Hundes unterschrieben, der Anfang April zwei Menschen getötet hat. „Lasst Chico leben!“ fordert die Petition auf der Plattform change.org, nahezu im Sekundentakt klettert die Zahl der Unterschriften noch immer nach oben.

Chico hat ausgelöst, was menschliches Leid, wie es etwa derzeit in Syrien geschieht, nicht auslöst: öffentliche emotionale Empörung. Denn für das Tier gelte immer die Unschuldsvermutung, sagt Winfried Speitkamp, Präsident der Bauhaus-Universität Weimar und dort Professor für Kulturgeschichte der Moderne. Er ist zugleich Mitglied des Projekts „Tier-Mensch-Gesellschaft“ an der Universität Kassel und forscht zur Beziehung zwischen Tier und Mensch in Geschichte und Gesellschaft. Es habe sich etwas verändert in dieser Beziehung, sagt der Historiker. Es gehe nicht mehr nur um Tierschutz, sondern um Tierrechte. Ein Gespräch über die ambivalente Liebe der Deutschen zu Tieren.

Herr Speitkamp, die Unterzeichner der Petition fordern für den Hund Chico dessen Recht auf Resozialisierung ein. Was steckt dahinter?

Winfried Speitkamp: Die Argumentation zielt darauf ab, dass dieses Tier gewisse Rechte hat. Und das ist eine neue Denkart. Das Tier wird nicht mehr nur wie früher geschützt – Tierschutz –, sondern wir reden mittlerweile von Tierrechten, die den Menschenrechten gleichgestellt sind. Nach dieser Einschätzung soll das Tier, genau wie der Mensch, wieder in die Gesellschaft der Tiere und Menschen integriert werden.

Wäre Chico ein Mensch, würden sich wohl kaum fast 300.000 Menschen für seine Resozialisierung einsetzen. Verzeihen wir einem Tier eher als einem Menschen?

Speitkamp: Ich glaube schon. Der Mensch vermutet das Tier immer im Zustand der Unschuld, im Naturzustand. In dieser Sichtweise ist es immer der Mensch, der das Tier zu etwas treibt. Wie Kinder, von denen man annimmt, sie wissen noch nicht, was sie tun. Auch das Tier folgt seinem natürlichen Trieb – und das darf es aus dieser Sichtweise heraus auch tun. Deswegen darf man es auch nicht dafür bestrafen, und folglich ist der Mensch am anderen Ende der Leine schuld an jedem Unglück.

Winfried Speitkamp forscht zur Beziehung zwischen Tier und Mensch in Geschichte und Gesellschaft.
Winfried Speitkamp forscht zur Beziehung zwischen Tier und Mensch in Geschichte und Gesellschaft. © privat | privat

Widerspricht das aber nicht dem Gedanken der Tierrechte? Denn mit Rechten gehen ja auch Pflichten und Verantwortung einher.

Speitkamp: Das ist zugegebenermaßen ein Widerspruch zu den Tierrechtsüberlegungen. Denn Sie haben recht, dann müsste der Hund auch verantwortlich für sein Handeln sein. Dann sind alle gleich, Mensch und Tier. Gefährliche Menschen und Tiere werden eingesperrt und im günstigsten Fall resozialisiert oder sie kommen in Sicherungsverwahrung. Sie sehen, wir kommen da an viele logische Probleme. Das zeigt auch, wie schwierig unser Verhältnis zu Tieren ist, wie widersprüchlich, wie unklar. Dürfen wir eine Fliege tottreten, aber einen Hund nicht? Warum eigentlich? Wir geraten da in ganz viele Probleme mit unserer Moral, mit unserem Verhalten. Für die Wissenschaft ist das spannend, aber für die Gesellschaft ist das im Alltag kaum zu lösen.

Wenn es um unsere Ernährung geht, kommen wir doch eigentlich ganz gut klar damit, dass Tiere sterben. Küken werden geschreddert, Katzen streicheln wir. Die einen töten wir, mit den anderen schmusen wir. Das ist schon ein bisschen irre.

Speitkamp: Wir haben uns an Nahrung gewöhnt, die nicht nach Tier aussieht. Damit kommen wir so halbwegs zurecht. Aber nehmen wir das Beispiel Kükenschreddern: Würden die Medien anschaulich die Geschichte eines einzelnen Kükens erzählen, und dass es erst Stunden zuvor auf die Welt gekommen ist, dass es aber schon bald zusammen mit seinen Geschwistern getötet werden wird und dazu möglicherweise noch einen Namen trägt, dann hat das eine Wirkung auf die Menschen.

Der Hund, der nun „resozialisiert“ werden soll, hat auch einen Namen und eine persönliche Geschichte. Aber er hat zwei Menschen getötet.

Speitkamp: Trotzdem wird generell das Mitleid geweckt, wenn das einzelne Tier als Individuum zu erkennen ist und getötet werden soll. Das haben wir nie gern – egal wie „schuldig“ es geworden ist. Und denken Sie an die Unschuldsvermutung, die ich zuvor erwähnt habe.

Wie würden Sie das Verhältnis der Deutschen zu Tieren beschreiben? Wie hat es sich verändert?

Speitkamp: Tiere wie Hund und Katze hat der Deutsche nur noch zum Vergnügen. Mäuse gibt es in den Häusern nicht mehr, man hat die Katze, um abends was zum Kuscheln zu haben. Das Tier wächst in die Familie hinein und wird zum Genossen.

Der Staffordshire-Terrier-Mischling Chico hat seine beiden Besitzer in Hannover getötet. Nun überlegen die Behörden, den Hund einzuschläfern.
Der Staffordshire-Terrier-Mischling Chico hat seine beiden Besitzer in Hannover getötet. Nun überlegen die Behörden, den Hund einzuschläfern. © dpa | Hauke-Christian Dittrich

... der seinem Herrchen blind und treu folgt?

Speitkamp: Genau. Der ein treuer Gefährte und Begleiter ist und das aufhebt, was manche in der Moderne als Entfremdung erleben, wo Bindungen zwischen Menschen nicht mehr so fest sind.

Chico ist ein sogenannter Kampfhund, ein Staffordshire-Mischling. Warum halten sich Menschen diese Hunde?

Speitkamp: Man hat ja immer wieder darüber spekuliert, dass Mensch und Tier nicht zufällig zueinander finden, oder dass Menschen sich die Tiere aussuchen, die zu ihnen passen. Otto von Bismarck hatte seine zwei riesigen Doggen und Kaiser Wilhelm II. hatte Dackel. Das wurde damals auch als symbolisch angesehen.

Für was stand der Dackel?

Speitkamp: Er hatte etwas Betuliches. Bei allem Säbelgerassel, das es bei Kaiser Wilhelm II. gab – und der Dackel ist ja auch ein Jagdhund – hatte man den Eindruck, der ist nicht wirklich gefährlich. Das ist eine Zuschreibung, die man vom Hund auf den Halter überträgt. Sie ist ein bisschen oberflächlich, und es ist natürlich spekulativ, wenn man eins zu eins von Hund auf Mensch schließen würde – aber es ist auch verführerisch, diese Zuschreibungen zu machen.

Was heißt das also für den Kampfhund?

Speitkamp: Es ist sicherlich kein Zufall, dass sogenannte Kampfhunde auch dazu dienen, die körperliche Stärke des Halters mit dem Tier, das vor ihm herläuft, zu verlängern. Das ist symbolisches Handeln. Genauso wie bestimmte Kleidung zu tragen, die Stärke, Bedrohung, Einsatzbereitschaft ausdrückt. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, wer mit welchen Hunden paradiert.