Berlin. Nach dem Auszug müssen viele eine neue Beziehung zu den Eltern aufbauen. Oft brechen alte Wunden auf. Lässt sich das Verhältnis kitten?

Wenn die Familie früher in Urlaub fuhr, trug ihr Vater sie im Schlafanzug samt Kissen und Decke ins Auto. Mareike Nieberding tat dann so, als würde sie schlafen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, bevor es raus aus dem niedersächsischen Städtchen Steinfeld auf lange Fahrt ging. Ihr Vater, erinnert sich Nieberding, war ihre wichtigste Bezugsperson – derjenige, der sie als Teenie von Partys einsammelte und bei dem sie Rat suchte.

Trotzdem haben sie sich entfremdet. Mit der Zeit hätten sie sich einfach nichts mehr zu sagen gehabt, schildert die heute 31-Jährige. Es ist ein Phänomen, das viele junge Erwachsene kennen. Sie wünschen sich ein enges Verhältnis zu den eigenen Eltern und leiden darunter, wenn die Lockerheit im Umgang mit Mutter und Vater verloren geht. Mareike Nieberding hat darüber nun ein Buch geschrieben: „Ach, Papa“ (Suhrkamp Nova).

Junge Deutsche heute fixierter auf Eltern als früher

Es erzählt die Geschichte ihrer persönlichen Entfremdung vom Vater und trifft den Nerv einer Generation, die lieber mit den Eltern in Urlaub fährt, als sich an den Älteren zu reiben.

Junge Deutsche sind stärker auf ihre Eltern fixiert als früher: Drei von fünf zwischen 18 und 25 Jahren leben noch zu Hause. Mehr als die Hälfte der Über-18-Jährigen hat jede Woche Kontakt zu den Eltern. Und der Anteil derer, die ihre Kinder später einmal so erziehen wollen, wie ihre Eltern sie selbst erzogen haben, ist zwischen 1985 und 2010 sogar von 50 auf 73 Prozent gestiegen.

Die Adoleszenz dauere heute mitunter bis Mitte 30, glaubt die Entwicklungspsychologin Inge Seiffge-Krenke.

Beziehung zu den Eltern stärker pflegen

Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass junge Erwachsene die Beziehung zu ihren Eltern stärker pflegen und sich mangelnde Rückmeldung stärker zu Herzen nehmen. Das Gefühl, seine Eltern zu verlieren, kann folglich zu Existenzängsten und schwerem emotionalen Leid führen, bis hin zu Depressionen.

So wie bei Mareike Nieberding. „Der Schmerz über die nicht geführte Vater-Tochter-Beziehung saß tief“, erzählt sie dieser Redaktion. „Ich hatte das Gefühl, er hat kein Interesse an dem Leben, das ich führe und das machte mich traurig.“

Als sie zum Studium nach Berlin zog, lebten sie und ihr Vater sich auseinander – so schildert sie es. In Zeiten, in denen familiäre Beziehungen innig wie nie sind, ist der Auszug des Kindes für Eltern, aber auch für den Nachwuchs oft ein schwerwiegender Bruch. Dennoch ist er unverzichtbar – das Kind emanzipiert sich von den Eltern und diese lernen sich selbst und den Partner in dieser Phase neu kennen.

Gemeinsames Wochenende sollte Beziehung kitten

Heute weiß Mareike Nieberding: Ihr Vater und sie hatten es verpasst, sich als Erwachsene auf neue Art kennenzulernen. „Ich traute mich nicht, ihm Dinge zu erzählen. Und wenn ich meine Eltern besuchte, war ich danach oft traurig.“

Ihr Umgang miteinander sei oberflächlich gewesen. „Wir waren gar nicht mehr neugierig aufeinander.“ Als die studierte Literaturwissenschaftlerin das realisierte, beschloss sie, etwas zu ändern. Eine Fahrt nach Freiburg, ein Wochenende nur zu zweit sollte die Vater-Tochter-Beziehung kitten.

Warum leiden viele junge Erwachsene unter ihren Eltern, obwohl sie sich scheinbar gut mit ihnen verstehen? Die Psychologen Jorge und Demian Bucay schildern in ihrem jetzt erschienenen Ratgeber „Eltern und Kinder“ (S. Fischer) die Phase, in der Kinder erwachsen und Eltern alt werden. Dann kommt häufig unterdrückter Groll zum Vorschein, nicht verheilte emotionale Verletzungen brechen wieder auf, schreiben sie. In dieser Phase sei es deshalb gut und nötig, Annäherung zu suchen.

Gemeinsames Wochenende rettet die Beziehung

Mit einem Gefühl der Beklommenheit fuhr Mareike Nieberding schließlich nach Freiburg. Doch die Reise wurde ein Erfolg. Endlich kam es wieder zu Gesprächen, zum gemeinsamen Abendessen, zu Lachanfällen, als sie in ihren Betten abends im Hotelzimmer lesen. „Es war ein guter Zeitpunkt, die Beziehung zwischen mir und meinem Vater aufzuarbeiten“, sagt die Autorin.

Doch merke sie auch, dass die eigentliche Arbeit an der Beziehung erst heute beginne. „Wenn wir zusammen zu Hause sind, ist es immer noch schwer, an ihn heranzukommen“, findet sie. „Man muss aufmerksam miteinander bleiben.“

Tatsächlich raten Psychologen genau zu dem, was Nieberding und ihr Vater beherzigt haben – Auszeiten zu zweit, regelmäßige Kontaktpflege, tiefe Gespräche suchen. Beziehungspflege sei, so Jorge Bucay, nicht nur in einer Partnerschaft, sondern auch unter Familienmitgliedern wichtig. Denn solange die Eltern leben, bleibt man ihr Kind. Auch jenseits der 30.