Berlin. Ingrid Endrerud überlebte das Massaker auf der norwegischen Insel Utøya mit 69 Toten. Nun sind die Ereignisse von 2011 verfilmt worden.

Am 22. Juli 2011 war Ingrid Endrerud 18 Jahre alt. Eine politisch engagierte junge Norwegerin, für die das Sommerlager auf Utøya dazugehörte – genau wie für Generationen von AUF-Mitgliedern vor ihr. Ingrid war Vorsitzende dieser sozialdemokratischen Jugendorganisation in ihrer Heimat Opp­land. Und dann war sie plötzlich noch etwas ganz anderes. Plötzlich war sie eine Utøya-Überlebende.

69 Menschen, die mit ihr auf der kleinen Insel waren, wurden am 22. Juli ermordet, erschossen von Anders Behring Breivik in einem beispiellosen Massaker. Der damals 32-jährige Rechtsextremist wollte die „Multi-Kulti“-Gesellschaft treffen, die er so hasste. Im siebten Jahr danach erzählt ein Spielfilm davon: „Utøya 22. Juli“.

„Sehr, sehr schwer zu erzählen“

„Sehr gut, aber ansehen werde ich mir das nicht.“ Das war Ingrid Endreruds erster Gedanke, als sie von dem Filmprojekt hörte. Dann aber zeigte sich, dass sie gebraucht wurde; Regisseur Erik Poppe bat um ihren Rat. Sie bekam die Gelegenheit zu beeinflussen, wie die Geschichte erzählt wird. Und so kam es, dass sie, die den Film nie sehen wollte, ihn auswendig kannte, bevor er überhaupt der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Weltpremiere war bei der Berlinale im Februar.

Film über Utøya-Massaker bei der Berlinale

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    Bei der anschließenden Pressekonferenz war der Applaus für sie und zwei weitere Überlebende auffallend herzlich. Am nächsten Tag sitzt Ingrid Endrerud im Hotel Scandic am Potsdamer Platz und macht mit weicher Stimme klare Aussagen. „Was genau auf Utøya geschehen ist, war immer sehr, sehr schwer zu erzählen“, sagt sie.

    Diese Geschichte zu bewahren, zu zeigen, wie sich der Realität gewordene Albtraum anfühlte: Das ist ihr wichtig. Wenn sie es selbst erzähle – „Ich lief von da nach da, versteckte mich dort und dort, sprach mit dem und dem“ – sei da immer so eine Distanz.

    Film kommt im Sommer in die deutschen Kinos

    Die verschwindet in „Utøya 22. Juli“ völlig. Der Film, der im Sommer in die deutschen Kinos kommt, bleibt ganz nah an Hauptfigur Kaja (Andrea Berntzen). Von den ersten Schüssen bis zum Ende des Albtraums vergingen auf Utøya 72 Minuten. Genauso lange dauert die Sequenz im Film. 72 Minuten ohne Schnitt, immer die Jugendlichen in ihrer Todesangst im Blick.

    Die Attentate von Oslo und Utøya

    Es ist eine Art 11. September für das Land. Der Rechtsterrorist Anders Behring verübt in Oslo und auf einer Insel vor der Stadt zwei Anschläge – im Kampf gegen die „Multikulti-Kultur“. Sein Amoklauf beginnt in Oslo. Im Regierungsviertel zündet Breivik eine mehrere hundert Kilogramm schwere Bombe.
    Es ist eine Art 11. September für das Land. Der Rechtsterrorist Anders Behring verübt in Oslo und auf einer Insel vor der Stadt zwei Anschläge – im Kampf gegen die „Multikulti-Kultur“. Sein Amoklauf beginnt in Oslo. Im Regierungsviertel zündet Breivik eine mehrere hundert Kilogramm schwere Bombe. © dpa | Julia Wäschenbach
    Die Bombe hatte Breivik in einem Lieferwagen deponiert und vor dem 17-stöckigen Hauptsitz der Regierung zur Explosion gebracht. Auch der sozialdemokratische Ministerpräsident Jens Stoltenberg hat damals sein Büro in dem Haus. Durch die Explosion werden alle Fensterscheiben zerstört. Trümmerteile schleudern Hunderte Meter weit durch die Luft. Acht Menschen sterben.
    Die Bombe hatte Breivik in einem Lieferwagen deponiert und vor dem 17-stöckigen Hauptsitz der Regierung zur Explosion gebracht. Auch der sozialdemokratische Ministerpräsident Jens Stoltenberg hat damals sein Büro in dem Haus. Durch die Explosion werden alle Fensterscheiben zerstört. Trümmerteile schleudern Hunderte Meter weit durch die Luft. Acht Menschen sterben. © dpa | Norwegian Police/handout
    Nach dem Anschlag in Oslo macht sich Breivik auf den Weg nach Utøya. Die Insel liegt etwa 40 Kilometer von Oslo entfernt.
    Nach dem Anschlag in Oslo macht sich Breivik auf den Weg nach Utøya. Die Insel liegt etwa 40 Kilometer von Oslo entfernt. © dpa | Lasse Tur
    Der Massenmörder kommt mit einer Fähre auf die Insel. Die MS Thorbjorn verkehrt zwischen der Insel und dem Festland. Breivik trägt einen Polizeipullover und eine kugelsichere Weste. Auch eine Pistole und eine automatische Waffe hat er bei sich.
    Der Massenmörder kommt mit einer Fähre auf die Insel. Die MS Thorbjorn verkehrt zwischen der Insel und dem Festland. Breivik trägt einen Polizeipullover und eine kugelsichere Weste. Auch eine Pistole und eine automatische Waffe hat er bei sich. © dpa | Julia Wäschenbach
    Hunderte Jugendliche machen auf der Insel Urlaub in einem Sommercamp der regierenden sozialdemokratischen Partei. Sie werden von Breivik angesprochen. Er wolle sie über den Bombenanschlag in Oslo informieren. Dann eröffnet Breivik das Feuer.
    Hunderte Jugendliche machen auf der Insel Urlaub in einem Sommercamp der regierenden sozialdemokratischen Partei. Sie werden von Breivik angesprochen. Er wolle sie über den Bombenanschlag in Oslo informieren. Dann eröffnet Breivik das Feuer. © dpa | Vegard Wivestad Groett
    Etwa eineinhalb Stunden lang läuft Breivik über die Insel, schießt auf die Jugendlichen und ihre Betreuer, auch auf jene, die ins Wasser springen und zum 600 Meter entfernten Festland flüchten wollen.
    Etwa eineinhalb Stunden lang läuft Breivik über die Insel, schießt auf die Jugendlichen und ihre Betreuer, auch auf jene, die ins Wasser springen und zum 600 Meter entfernten Festland flüchten wollen. © dpa | Julia Wäschenbach
    Auch im Schulhaus verstecken sich die Kinder, dicht gedrängt, da es nur wenige Hütten gibt.
    Auch im Schulhaus verstecken sich die Kinder, dicht gedrängt, da es nur wenige Hütten gibt. © dpa | Julia Wäschenbach
    Andere kauern unter Felsvorsprüngen oder suchen hinter ein paar Büschen Schutz  so wie der damals 15-jährige Sindre Lysø. Er flüchtet mit einem Mädchen, das er nicht kennt, vor dem Attentäter. „Wir hatten Angst, aber wir wussten nicht, wovor wir uns verstecken“, erzählt er.
    Andere kauern unter Felsvorsprüngen oder suchen hinter ein paar Büschen Schutz so wie der damals 15-jährige Sindre Lysø. Er flüchtet mit einem Mädchen, das er nicht kennt, vor dem Attentäter. „Wir hatten Angst, aber wir wussten nicht, wovor wir uns verstecken“, erzählt er. © dpa | Julia Wäschenbach
    Bis die Polizei auf Utøya eintrifft, vergeht viel Zeit. Anwohner starten mit ihren Privatbooten in Richtung der Insel, um Überlebende aus dem Wasser zu retten. Auch Jorn Øverby eilt zur Hilfe. In seinem Boot rast er immer wieder Utøya entgegen, zieht einen Körper nach dem anderen aus dem kalten Fjord.
    Bis die Polizei auf Utøya eintrifft, vergeht viel Zeit. Anwohner starten mit ihren Privatbooten in Richtung der Insel, um Überlebende aus dem Wasser zu retten. Auch Jorn Øverby eilt zur Hilfe. In seinem Boot rast er immer wieder Utøya entgegen, zieht einen Körper nach dem anderen aus dem kalten Fjord. © dpa | Julia Wäschenbach
    Bevor die Polizei eintrifft, rettet Øverby so 30 Jugendliche. Durch die Insel wird er immer an das Attentat erinnert werden.
    Bevor die Polizei eintrifft, rettet Øverby so 30 Jugendliche. Durch die Insel wird er immer an das Attentat erinnert werden. © dpa | Julia Wäschenbach
    Als schließlich die Polizei auf der Insel eintrifft, wird Anders Breivik nach wenigen Minuten gestellt. Er ergibt sich und wird festgenommen. 69 Menschen im Alter von 14 bis 51 Jahren sind tot.
    Als schließlich die Polizei auf der Insel eintrifft, wird Anders Breivik nach wenigen Minuten gestellt. Er ergibt sich und wird festgenommen. 69 Menschen im Alter von 14 bis 51 Jahren sind tot. © dpa | Joerg Carstensen
    Der Rechtsterrorist Anders Behring Breivik gesteht beide Anschläge mit 77 Toten. Er wird zu einer Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
    Der Rechtsterrorist Anders Behring Breivik gesteht beide Anschläge mit 77 Toten. Er wird zu einer Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. © imago/ZUMA Press | imago stock&people
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    Ingrid war an jenem Tag auf der Fähre, mit der Anders Behring Breivik zur Insel fuhr. Sie hörte ihn sagen, dass er nach der vorangegangenen Explosion in Oslo den Auftrag hätte, für die Sicherheit der AUF-ler zu sorgen. Ingrid glaubte ihm nicht, er habe kalt gewirkt, seine Uniform habe nicht ordentlich ausgesehen. Das erzählte sie kurz danach im norwegischen Fernsehen. Bis heute stehen die Videos online. Sie beschrieb, wie sie von der Fähre rannte. Wie sie dann die ersten Schüsse hörte, sich in einer Felsspalte versteckte. Überlebte.

    „Die äußerste Konsequenz von Rechtsextremismus“

    „Im Film finden sich kleine Stücke von vielen, vielen verschiedenen Geschichten, die Überlebende von Utøya erzählt haben“, sagt sie heute, sechseinhalb Jahre später. Eine Gruppe Menschen rennt in Panik durch das seichte Wasser am Ufer und macht dabei einen buchstäblich unheimlichen Lärm: eine ihrer eigenen Erinnerungen. Ein Mädchen bricht sich auf der Flucht vor dem Schützen den Fuß: die Geschichte einer Freundin. Jugendliche rufen die Polizei und dort versteht zunächst niemand, wovon sie überhaupt reden. Auch das gab es.

    „Natürlich war es schwer, mit dem Thema zu arbeiten“, sagt Endrerud, „aber es war mir auch sehr wichtig.“ Das hat auch politische Gründe. Die Gesellschaft solle sehen, was „die äußerste Konsequenz von Rechtsextremismus“ ist. Welche Gefahr von der Sorte extremer Haltung ausgehe, wenn sie unwidersprochen bleibe.

    Endrerud möchte nicht verstecken, dass es ihr gut geht

    Nicht nur die Erinnerungen an den Tag sind vielfältig. Ingrid Endrerud betont, dass sich auch das Leben danach für die Überlebenden sehr unterscheiden kann: „Manchen, die den 22. Juli erlebt haben, geht es bis heute sehr schlecht. Für die ist es, als wäre es gerade erst passiert. Für sehr viele ist es aber auch nicht so.“ Von sich selbst sagt sie: „Ich habe es bei mir in meiner Geschichte, aber ich lebe sehr gut damit.“ Ihre Sorge ist, dass Menschen, die den Film jetzt sehen, ihre eigene Betroffenheit auf sie projizieren. Sie möchte nicht verstecken, dass es ihr gut geht.

    Heute ist Ingrid Endrerud 25 Jahre alt. Sie ist immer noch AUF-Mitglied, sitzt als Internationale Vertreterin im Landesvorstand. Im Juni gibt sie ihre BWL-Bachelorarbeit ab. Und dann? Sie lächelt: Das weiß sie noch nicht. Das Massaker von Utøya gehört zu ihrer Geschichte. Durch den Film auch zu ihrer Gegenwart. Aber die Zukunft liegt vor ihr, offen und weit.