Berlin. Mit dem Taxi Mama werden Kinder heute überall hinkutschiert. Experten warnen davor, Kinder unselbstständig und zu behütet zu erziehen.

  • Nicht mal den kurzen Weg zur Schule lassen Eltern ihre Kinder heute gehen
  • Ein Kinderpsychologe warnt, dass so unfähige Erwachsene herangezogen werden
  • Er rät zu mehr Mut der Eltern, die dann auch mehr Zeit für sich haben könnten

Anton (8) hat keine Ahnung, was ein Schlüsselkind ist. Neulich kam so eines in einem Kinderbuch vor, das ihm seine Mutter als Gute-Nacht-Geschichte vorlas. „Das sind Kinder, die nach der Schule alleine nach Hause gehen und ihren Haustürschlüssel um den Hals tragen“, hat Antons Mutter dann erklärt.

Für Anton ist ein Schlüsselkind fortan also ein Märchenheld, reine Fiktion. Alleine zur Schule gehen wird der Drittklässler aus Berlin-Mitte nämlich nie. Der Grund sind zwei zwar beampelte, jedoch vierspurige Straßen direkt vor seinem Wohnkomplex und die Sorge seiner Eltern.

Das Taxi Mama fährt vom Klavierunterricht zum Hockeytraining

Anton besucht eine internationale Schule nur fünfzehn Gehminuten entfernt. Den Weg zurück würde er dennoch wohl nur mit Mühe finden – aber dazu wird es ja eh nie kommen. „Mama Taxi“ sagen französische Eltern spöttisch über andere Mütter, die ihre Kinder wie in Watte gepackt vom Klavierunterricht zum Hockeytraining fahren. In deutschen Großstädten, aber auch auf dem Land, wo die Strecken zur Freizeitaktivität meist noch länger sind, ist diese Praxis längst Realität.

Noch nie war eine Generation von Kindern so beschützt wie heute, noch nie ließen Eltern generell ihrem Nachwuchs so wenige Freiheiten. Die kurze Leine von Kindern in der heutigen Zeit ist unlängst durch eine Studie belegt. Demnach konnten sich deutsche Kinder in den Sechzigerjahren in einem Radius von mehreren Kilometern frei bewegen, heute beträgt die Entfernung kaum noch 500 Meter vom Elternhaus.

-----------------

Mehr zum Thema:

Hatten unsere Eltern wirklich die bessere Arbeitsmoral?

Erzieherin berichtet vom Aufschrei aus dem Kindergarten

-----------------

Zahl der verhaltensauffälligen Kinder scheint gestiegen

Kindheit, das spiegeln auch die Beobachtungen in den sozialen Netzwerken wider, heißt längst nicht mehr, durch die Wälder oder das Viertel zu toben und um sieben Uhr zum Abendessen wieder zu Hause zu sein. Vielmehr hangeln sich Eltern und Kinder heutzutage von Feriencamp zu Spielverabredung, von Zirkus-AG zu Ballettschule – alles ist betreut, bis es abends ins Bett geht.

Der Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff findet diesen Zustand höchst alarmierend. „Kinder werden zu unfähigen Erwachsenen erzogen – und das ist seit mehr als 20 Jahren Normalität in Deutschland geworden“, sagt der Buchautor („Die Wiederentdeckung der Kindheit“). Die Zahl der verhaltensauffälligen Kinder – das erlebe er im Praxisalltag – sei dramatisch gestiegen. Überbehütung ist in seinen Augen genauso schlimm wie Verwahrlosung. „Eltern, die in einer Symbiose mit ihren Kindern leben, nehmen ihnen die Möglichkeit, sich zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entwickeln“, warnt Winterhoff.

Eltern sind heute im ständigen Katastrophenmodus

Erwachsene, die ständig um ihren Nachwuchs kreisen, reagieren laut Winterhoff im Grunde nur noch – auf ihr Handy, ihrem Computer oder auch auf ihr Kind. Sie befinden sich in einem permanenten Katastrophenmodus und haben den Anschluss zu sich selbst verloren. Kinder lernen durch diese Verhaltensweise: Ich kann immer alles bekommen – und zwar sofort. „Sie bleiben im Reifegrad eines Kleinkindes stehen“, erklärt er.

Wer als Kind alles abgenommen kriegt, wird sich laut dem Experten später wenig zutrauen. In schweren Fällen mündet mangelndes Selbstbewusstsein Pädagogen zufolge in ständiger Überforderung und kann wiederum zu Krankheiten wie ADHS, Depressionen oder Essstörungen führen. Dabei ist das Gefühl, sein Kind auch über das Grundschulalter hinaus überallhin begleiten zu müssen, der Gedanke, dass wir in unsicheren Zeiten leben, nicht einmal durch Fakten belegt. Die Zahl der im Straßenverkehr verunglückten Kinder ist laut Statistischem Bundesamt zwischen den Jahren 1978 und 2014 um rund 42 Prozent zurückgegangen, die Zahl der getöteten Kinder sogar um über 92,5 Prozent.

Auch Eltern müssen lernen – und zwar Erziehung

„Eltern neigen heutzutage ohne Zweifel zu größerer Vorsicht“, bestätigt auch der Präsident des Kinderschutzbundes Heinz Hilgers. Man dürfe nicht zu spät anfangen, seinem Kind auf seinem Weg zu einer eigenständigen Persönlichkeit Vertrauen zu schenken.

Ob Eltern ihrem Grundschulkind den Weg in die Schule alleine zumuten könnten oder nicht, sei glücklicherweise im Gesetz nicht geregelt. „Das sind Entscheidungen, die aus den Erfahrungen der Erziehung getroffen werden müssen.“ Eltern, die mit der Sorge um ihr Kind schwer zurechtkommen, empfiehlt Hilgers, „die Dinge erst zusammen zu machen“. Den Schulweg, einkaufen gehen – „Schritt für Schritt“ wachse so Vertrauen.