Berlin. Machen Sexfilme eine ganze Generation beziehungsunfähig oder erweitern sie ihren Horizont? Experten sehen auch Eltern in der Pflicht.

Ein junger Mann, der heute in Deutschland aufwächst, kann sich der Pornografie im Internet kaum entziehen. Und auch Eltern werden es kaum schaffen, ihre Söhne von entsprechenden Erfahrungen fernzuhalten. So haben 60 Prozent der 15 Jahre alten männlichen Jugendlichen schon mindestens einmal in ihrem Leben einen Porno gesehen. Eine Entwicklung, die Spuren hinterlässt. Ob gute oder schlechte – darüber diskutieren Experten seit Jahren.

Es geht bei der Debatte um die Liberalisierung der Sexualität als Fortschritt einer aufgeklärten Gesellschaft auf der einen und eine von Verrohung bedrohte Jugend, eine „Generation Porno“, auf der anderen Seite. Auch der jetzt veröffentlichte dritte Männergesundheitsbericht mit dem Titel „Sexualität von Männern“ widmet ein Kapitel der Digitalisierung der Sexualität – einem der großen gesellschaftlichen Trends. Denn Pornografie stehe heute in historisch einmaliger Vielfalt und Fülle zur Verfügung, schreibt die Autorin. Sie könne über Mobilgeräte jederzeit und überall diskret konsumiert werden. Fernab des elterlichen Einflussbereichs.

Chance und Risiko zugleich

Ein Umstand, der Chance und Risiko zugleich ist. Denn er bedeutet einerseits einen Lustgewinn und eine Horizonterweiterung für Heranwachsende. Andererseits bestehe das Risiko eines reduzierten Kinder- und Jugendschutzes. Und auch die Problematisierung von massenhaftem Pornokonsum durch Männer wird, etwa im Sinne der Abstumpfung, thematisiert.

Der Sexualwissenschaftler Konrad Weller von der Universität Merseburg, die auch an der Erstellung des Männergesundheitsberichts beteiligt war, erforscht seit Jahrzehnten die Jugendsexualität und verweist auf empirische Befunde, die seit Mitte der 1960er-Jahre vorliegen, auch zum Thema Pornografie – „seit also einer Zeit, in der es die Pornografie in der heutigen Form noch gar nicht gab“, sagt Weller. Das ermöglichte ihm einen Blick auf die Entwicklung. Sein Fazit ist eindeutig: Die negative Wirkhypothese, die Nutzung von Online-Pornografie führe zu Verwahrlosung, mache süchtig, führe zu einer Generation der Beziehungsunfähigen – sie sei eine Legende.

Extreme Bilder werden aus Neugierde angesehen

So belegt etwa eine Befragung der Hamburger Sexualwissenschaftlerin Silja Matthiesen aus dem Jahr 2013 im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), dass männliche Jugendliche extreme pornografische Materialien nicht erregend finden und sie eindeutig ablehnen. Das widerspricht der These der Abstumpfung, der zufolge der Konsum von Pornografie die Suche nach immer härteren Bildern befördere. Weller bestätigt das. „Wir wissen, dass die Jungs überwiegend sehr harmlose Pornos gucken.“ Extremere Bilder würden eher aus Neugierde angesehen.

In der BZgA-Untersuchung schreiben die Autoren, weder die Längsschnittstudien der BZgA noch andere empirische Untersuchungen in Deutschland würden Hinweise auf eine „sexuelle Verwahrlosung“ geben. Außerdem könnten Jugendliche zwischen realer und virtueller Welt unterscheiden – die eine wollen sie nicht durch die andere ersetzen.

Pornokonsum bestimmt nicht die Vorlieben

Wie genau Pornografie auf die jungen Konsumenten wirkt, ist nicht abschließend geklärt. „Zunächst einmal wirkt Pornografie natürlich – sonst würde sie ja nicht genutzt“, sagt Weller. Doch es geht um Langfristiges, Veränderungen der Persönlichkeit. Auch hier hat die BZgA-Studie herausgefunden: Die männlichen Jugendlichen gehen mit dem Internetangebot wählerisch um. Nicht etwa der Pornokonsum bestimme ihre sexuellen Vorlieben, sondern umgekehrt.

Gleichwohl streitet Weller die Aussagen von Medizinern nicht ab, die von einer steigenden Zahl Pornosüchtiger sprechen. Eine Entwicklung gehe nie nur mit positiven Aspekten einher. „Und natürlich findet man im Internet viel Unschönes, potenziell Verstörendes“, sagt Weller. Hier sei es Aufgabe der Eltern, das Kind vor einer Traumatisierung zu bewahren. Jedoch nicht durch Verbote. „Das Wichtigste ist, den Jugendlichen zu signalisieren, dass man als Eltern Vertrauen in sie hat.“

„Es bringt nichts, das Kind fernhalten zu wollen“

So könne potenziell Traumatisches sogar entwicklungsfördernd wirken – „wenn man mit dem Kind darüber spricht“. Weller, selbst Familienvater, weiß aber sehr wohl um die Sorgen von Eltern. „Gleichwohl ist Sorge der falsche Weg“, sagt der Sexualwissenschaftler. Denn auch wenn sich der Schutzreflex der Eltern aktiviere,„es bringt nichts, das Kind fernhalten zu wollen“.

Die Initiative „Schau hin! Was dein Kind mit Medien macht“ empfiehlt Eltern, auf Anzeichen für kritischen Pornokonsum zu achten. „Auch wenn Jugendliche mit ihren Eltern ab einem gewissen Alter nicht mehr direkt über Sexualität reden, bleibt sie trotzdem in der Kommunikation zwischen Kind und Eltern indirekt ein Thema“, sagt Kristin Langer, Mediencoach bei „Schau hin!“. Benutzten Jugendliche etwa sexuell abwertende Bemerkungen, sei das oft ein Hinweis darauf, wie sehr das Thema präsent und gleichzeitig verunsichernd sei. „Eltern können hier vorsichtig nachhaken.“

Mediencoach Langer rät, das Kind auf den Unterschied zwischen Pornos und echter Sexualität hinzuweisen. „Pornos transportieren meist ein fragwürdiges Bild von Sexualität.“ Die Unterwürfigkeit von Frauen, klischeehafte Zuschreibung sexueller Eigenschaften wie permanente sexuelle Bereitschaft oder die Dominanz des Mannes seien stereotype Darstellungen, die an der Wirklichkeit vorbeigingen. Indem man mit Kindern rede, könne man sie zu einem kritischen, selbstbestimmten Umgang ermuntern.