Berlin. Harald Lesch findet, dass Kinder durch Schule verunsichert werden. Im Interview erzählt er, welche Folgen das für die Gesellschaft hat.

Wer einen Blick auf das deutsche Bildungssystem wirft, wird feststellen, dass es dieses eine, allgemeingültige Schulsystem gar nicht gibt: NRW macht es anders als Hamburg, Berlin anders als Hessen. Jedes Bundesland hat seine eigene Regelung, was dazu führt, dass es Dutzende verschiedene Schulformen und Lehrpläne sowie Hunderte Studienverordnungen gibt. Deutschlands Bildungslandschaft gleicht einem Flickenteppich.

Mit seinem Video „Das Schulsystem ist Mist“ hat TV-Moderator und Uni-Professor Harald Lesch auf dieses Problem aufmerksam gemacht und einen Hit in den sozialen Netzwerken gelandet. Mit mehr als 24.000 geteilten Inhalten auf Facebook scheint der aus der ZDF-Sendung „Terra X“ bekannte Lesch vielen Nutzern wie aus der Seele zu sprechen.

Der Professor für Physik an der Ludwigs-Maximilian-Universität in München erklärt im Interview mit unserer Redaktion, warum Bildungsreformen wie Bologna-Prozess oder Turbo-Abitur G8 seiner Meinung nach gescheitert sind. Und er spricht darüber, dass das Versagen der Schule ein ernsthaftes Problem für eine demokratische Gesellschaft ist.

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Ihr Video „Das Schulsystem ist Mist“ wurde allein auf Facebook mehr als 1,8 Millionen Mal angeschaut. In den Kommentaren äußern viele Nutzer ihre Zustimmung. Haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?

Nein. Das Thema liegt mir aber schon seit einigen Jahren am Herzen. Als Professor bin ich ja sozusagen Endverbraucher. Die Veränderung an der Uni mit Bachelor und Master ist schon sehr schnell – aber in der Schule ist diese Beschleunigung ja noch stärker zu spüren. Man erlebt, dass die Studierfähigkeit systematisch nachgelassen hat. Wenn man Eltern, Lehrer oder Schüler fragt, merkt man, dass niemand mit diesem System zufrieden ist. Wirklich niemand. Fragt man allerdings in Schulämtern nach, sind die ganz gelassen und finden die Schulreformen großartig.

Wie meinen Sie das?

Da werden ständig Erfolgsmeldungen propagiert. Das gilt ja für den Bologna-Prozess, der Studiumsabschlüsse auf ein gleiches europäisches Niveau bringen sollte, genauso. Dass das eigentlich totaler Schwachsinn ist, den wir da gemacht haben und die Fächer, die wir eh schon systematisch studiert haben, nämlich die Naturwissenschaften im Diplom – darüber redet keiner. Alle sagen, das können wir nicht mehr ändern, mit der Begründung, weil wir es nicht mehr ändern können. Diese Art von Argumentation findet man in dem ganzen Bereich sehr oft, wenn es um Schule und Universitäten geht.

Viele sagen, der Wettbewerb der Schulsysteme in den Bundesländern fördere die Qualität.

Wenn ich nur wüsste, woher dieses ganze Geschwätz von dem Wettbewerb kommt. Man hätte das auch so machen können, dass man ein Blatt Papier mit einem Satz beschreibt: ,Wir erkennen die jeweiligen Studienabschlüsse des jeweiligen anderen Bundeslandes an.’ Punkt. Dann unterschreiben alle und Feierabend. Damit hätte man eine prima Öffnung zum Universitätsraum hingekriegt – und zwar ohne, dass wir jetzt universitär homogenisiert werden, was sowieso nicht funktioniert hat. Warum aber eigentlich G8?

...also das sogenannte Turbo-Abi nach acht statt neun Jahren Gymnasium.

Weil angeblich unsere deutsche Jugendlichen zu alt sind, wenn sie anfangen zu arbeiten. Der ganze Wettbewerb mit Asien, dass die uns eines Tages das Wasser abgraben werden – ich lache mich kaputt. Als ob wir jemals mit Asien konkurriert hätten! Es kann doch nicht sein, dass wir uns in irgendeiner Weise dem japanischen, südkoreanischen oder chinesischen Schulsystem in irgendeiner Form anpassen.

Warum macht man das dann so kompliziert?

Am Ende glaub ich, dass die Schulen deshalb ständig reformiert werden, weil die Länder da zeigen können, dass sie auch da sind, weil ja ganz viele Kompetenzen von den Ländern an den Bund gegangen sind – wobei nur die Schulen und Universitäten als letztes großes Projekt zeigen können: Hey, wir sind auch noch da.

Es geht um Eitelkeiten?

Inhaltlich gibt es überhaupt keine Gründe, wir werden immer älter, wir werden immer länger arbeiten müssen. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, das Leben eines Menschen in den ersten 20 Jahren dermaßen zu beschleunigen und zu komprimieren wie wir das tun. Das hat natürlich auch mit Ökonomisierung zu tun. Ökonomisierung bedeutet ja, Handeln unter eingeschränkter Ressource – und letztere ist in diesem Fall die Zeit. Man versucht die Menschen, zu ökonomischem Handeln zu treiben, indem man ihnen die Zeit knapp macht. Das ist abartig. Dabei hat jeder Tag nur 24 Stunden.

Zumal man im Alter ja auch länger arbeiten muss.

Ja, es passt hinten und vorne nicht. Anstatt am Anfang großzügig zu sein und den Leuten die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln. Nehmen wir doch mal das Beispiel in Bayern: Hier wird in der vierten Klasse entschieden, wohin sich das Leben entwickeln wird. Darfst du nun aufs Gymnasium gehen oder nicht. Warum gibt man den Kindern nicht einfach Zeit? Warum geben wir so Vollgas? Dass viele unsere Gymnasiasten an die Unis getrieben werden – völliger Unsinn.

Was wäre denn die Alternative?

Die Gymnasiasten sollen eine Berufsausbildung machen. Wir sorgen dafür, dass wir unser klasse duales Bildungssystem, also Berufsschule neben der Ausbildung im Betrieb, auseinandertreiben. Und darum beneidet uns schließlich die halbe Welt. Unis sind auch keine Berufsausbilder und im Gegensatz zu Fachhochschulen keine Zulieferer für die Industrie. In dem Video plädiere ich für mehr Großzügigkeit, für mehr Gelassenheit, den Ball flach halten. Gebt den Kindern einfach Zeit und lasst sie sich entwickeln.

Sie als Uni-Professor, wo sehen Sie Unterschiede zwischen den Erstsemestern von heute und den von vor zehn oder 15 Jahren?

Also zu erst einmal: Sie sind jünger. Im Leben bedeuten zwei Jahre schon ganz schön viel – besonders wenn der Betreffende noch nicht 20 ist, was umgerechnet schon zehn Prozent seines Lebensalters sind. Diese zwei Jahre fehlen teilweise. Eine gewisse Ruhe, eine Krisenbeständigkeit, Konfliktauseinandersetzung, etwas aushalten können. Dass einmal nicht alles so funktioniert wie früher, wo man super Noten bekommt, sondern damit klarkommt, dass man jetzt auch mal eine Drei bekommt.

Was genau kritisieren Sie da?

Vor allem: Die völlige Hinwendung zur Benotung – das ist eine der drastischsten Veränderungen in der Universität. Früher waren es nur wenige Noten die im Diplom stehen, heute steht da jede Note von jeder Vorlesung im Bachelorzeugnis! Das sorgt dafür, dass bei den Studenten im ersten Semester schon eine Welt zusammenbricht, wenn sie eine Drei bekommen, weil sie denken, sie erreichen ihren Schnitt nicht mehr. Auf der einen Seite haben wir immer weniger Studenten, die in der Lage sind, die Härten eines Studiums auszuhalten. Auf der anderen Seite treiben wir sie natürlich auch in so eine Anpassungsphase, indem wir alles benoten.

War das früher anders?

Wir hatten früher mal eine Kultur des Vertrauens. Heute haben wir ein reines Misstrauensmanagement. Besser wäre doch, wir würden es so machen, dass wir am Ende des vierten Semesters sagen, dass es eine mündliche Prüfung gibt und wir die Studierenden über den Gesamtzusammenhang abfragen. Dann setze ich natürlich das Vertrauen in den Studenten, dass er die Veranstaltung besucht und sich den Stoff selbstständig erarbeitet. Es gibt keine Prüfungen mehr im Zusammenhang, weshalb viel, viel mehr Fachidioten produziert werden. Das war früher auch nicht so. Da konnten Studenten schlendern – heute müssen sie marschieren. Jetzt könnte man natürlich sagen: „Moment mal, Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ – im Gegenteil: Um ein Gehirn wirklich gut entwickeln zu lassen, braucht es Freiräume. Das sieht man ja an Elite-Unis.

An denen man den Studenten sagt: Macht wie ihr wollt?

Genau. Da sagt man: „Ihr könnt auch scheitern, aber hey, wenn ihr gut seid, dann werdet ihr relativ schnell feststellen, dass Disziplin, Pünktlichkeit und eine gewisse Art von Rhythmus ganz wichtig ist.“ Freiheit ist ein Begriff, der in Verbindung mit Vertrauen Grundbausteine des universitären Daseins bedeuten. Wenn wir das wegnehmen, dann zerstören wir das und machen daraus eine Maschinerie, eine Art Pipeline. Vorne kommen die Jugendlichen rein, und hinten kommen irgendwelche Studenten raus, bei denen dann aber wieder die Industrie sagt: Nein, die wollen wir doch gar nicht. Zumindest nicht so.

Wenn ich an meine Zeit in der Uni denke, fallen mir Hunderte Folien ein, die mit Eiltempo vorgezeigt werden. Ich finde das einschläfernd, weil es einfach zu viel ist. Und ich studiere an einer Fachhochschule.

Das kann ich durchaus nachvollziehen. Wenn ich aber heute nochmal studieren würde, würde ich dennoch an eine FH gehen, weil ich den Eindruck habe, dass die viel besser auf das Bologna-System ausgerichtet sind. Die Unis tun dagegen immer noch, als seien sie etwas anderes. Und haben dadurch in der Logistik das Problem, nicht studentenfreundlich zu sein, weil sie glauben, sie seien etwas Besseres. Da sind die FHs ehrlicher. Die sagt einfach: „Okay, pass auf: Hier geht es hart zu, aber wenn du hier rauskommst, hast du auch die Chance, dass du was machen kannst.“

Was kann man dagegen machen?

Wir sollten irgendwann anfangen, der Vernunft endlich wieder Raum zu geben, zurückzukommen zu Verhältnissen, in der Dinge großzügiger waren. Und dabei möchte ich nicht sagen, dass früher alles besser war – aber es war langsamer. Auch wieder den Lehrern mehr Spielraum zu geben und sie nicht mit brutalen Lehrplänen damit zu knebeln, am Ende des Schuljahres irgendwo sein zu müssen. Warum geben die Ministerien den Lehrern so wenig Gestaltungsfreiheit? Nehmen wir doch mal mein Fach Physik: Es ist erschütternd, dass heute nicht mehr die elementarsten Dinge gelehrt werden.

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Welche Auswirkungen hat diese Komprimierung von Lerninhalten im Eiltempo für die Gesellschaft?

Durch das Versagen der Schule und der Universitäten verschwindet die Lust am Nachdenken und Hinterfragen, weil man sich nicht mehr traut. Und gar nicht mehr weiß, zu welchen gedanklichen Leistungen man in der Lage ist. Das was eine demokratische Gesellschaft braucht, sind ja kritische Menschen, die einen Zusammenhang hinterfragen können. Zunächst auf Grundlage ihrer Vorurteile, dann ihrer Meinung und zuletzt auch wegen der Faktenlage. Was wir im Moment erleben, ist das Ende der Fakten. Das hat auch damit zu tun, dass auch immer weniger Leute darauf vertrauen, was sie denken. Und dazu muss man nicht studieren, sondern braucht einfach nur genügend positive Rückmeldungen, dass man sich selbst traut. Das Schlimmste, was passiert, ist, dass man sich nicht traut. Wenn man sich nicht traut, kriegt man Angst. Angst erzeugt aber Hass. Sie können das für alle gesellschaftliche Bereiche nehmen: Wenn sie souveräne Menschen haben, die wissen wer sie sind und was sie können, ist die Gefahr von Konflikten bei dem Gegenübertreten von etwas Neuem – das können neue Menschen oder aber auch neue Entwicklungen sein – natürlich viel geringer, als wenn sie es mit Leute zu tun haben, die zutiefst verunsichert sind.

Das heißt?

Unsicherheit führt im Allgemeinen dazu, dass unser Gehirn etwas tut, was es eigentlich nicht tun will, nämlich Angst produzieren – und das ist der schlechteste Ratgeber in allen Lebenslagen. Ich glaube, dass diese Vernichtung von Optionen für unsere jungen Leute langfristig dazu führen wird, dass wir eine sehr angstbesetzte Gesellschaft bekommen werden, die mit den Herausforderungen, die auf uns zu kommen, immer schlechter zu Rande kommt. Weil die Leute nicht souverän sind und nicht vertrauensvoll in ihre eigenen Handlungen gehen können. Wir hatten das schon einmal in Deutschland. Und wenn man sich den Rest von Europa anschaut, kommen immer mehr rechtspopulistische Strömungen durch. Und das hat auch damit zu tun, dass unsere Bildungseinrichtungen generell in Europa deutlich nachgelassen haben.

Aber warum hat man das nicht früher gemerkt? Ist man sich dem überhaupt bewusst geworden, was für Folgen dieses Art von Schulsystem hat?

Es sind Strömungen. Wir haben eine neoliberale Strömung gehabt, die wir jetzt ganz langsam wieder zurückschieben werden, wobei sie wieder angefangen hat, nach vorne zu gehen. Wir sehen das ja nicht nur in der Bildung, sondern auch bei der Entwicklung von Flexibilisierungsmaßnahmen im Finanzmarkt, bei denen alle Experten gewarnt haben, dass man es nicht machen soll. Und das Schlimme ist: Wenn man es erstmal durchgezogen hat, ist es ganz schwierig, das wieder zurückzudrehen.

Weil das System auch als Natürlichkeit angesehen wird? Als eine Art Religion?

Genau, weil wir aber auch keine Kultur des Scheiterns haben. Wir haben uns in Deutschland angewöhnt, immer nur über Erfolge zu reden und niemals darüber: „Oh, da haben wir uns geirrt.“ Dabei ist ein Irrtum eine tolle Sache. Da besteht der Erkenntnisgewinn nämlich darin, zu wissen, wie es eben nicht gehen sollte. Wenn wir eine Kultur des Scheiterns hätten, gebe es viel früher Reflexionen darüber, ob denn die Richtung, in der wir mit einer bestimmten Entscheidung gegangen sind, auch tatsächlich erreicht wird oder ob es nicht falsch ist, dass wir bemerken, dass man Entwicklungen angetrieben hat, an die man gar nicht gedacht hat. Und ich glaube, da liegt der Hund begraben. Wir haben durch die anglo-amerikanische Art, komplett auf den Erfolg zu gehen, vergessen, dass es mal eine kontinentaleuropäische Tradition war, kritisch nachzufragen, ob man überhaupt richtig ist. Und auch mal Spaßbremse zu sein.