Washington. Musiker Steven Tyler wurde mit Aerosmith zum Superstar. Trotz beinahe übermenschlicher Ausschweifungen ist er noch fit. Nun wird er 70.

Risiko eingehen. Alleingänge wagen. Die eigene Komfortzone verlassen. Allein auf weiter Flur sein – es gibt reichlich Übersetzungen für „Out on a limb“. Was den Titel des Eröffnungsfilms des renommierten Film-Festivals von Nashville angeht, das im Mai wieder Zehntausende in die Musik-Metropole Tennessee lockt, treffen sie alle zu.

Steven Tyler, dem der faszinierende Dokumentar-Streifen gewidmet ist, hat sich auf den Rockbühnen dieser Welt kreischend, schreiend, tobend und rennend oft bis an die Schamgrenzen und darüber hinaus exponiert. Dass er noch am Leben und bei unverändert wirr-heiterem Verstand ist, grenzt nach all den übermenschlichen Ausschweifungen an ein Wunder.

Der Dude, der analog zu einem seiner größten Songs je nach Kameraeinstellung und Kajal-Strich tatsächlich wie eine Lady aussieht, hat es mit Aerosmith zu einem der unkaputtbarsten Poser der Rockgeschichte gebracht.

In der Schule eine männliche Pippi Langstrumpf

Während andere in seinem Alter – Mick Jagger ausgenommen – ihre ausgemergelten Körper allenfalls noch am Stock im Park spazieren führen können, halten die italienisch-deutsch-polnisch-ukrainischen Gene seiner Vorfahren den vierfachen Großvater auf Trab.

Tom Hamilton, Joe Perry, Steven Tyler, Brad Whitford, und Joey Kramer (li. n. re.) wurden als Aerosmith zu Weltstarts..
Tom Hamilton, Joe Perry, Steven Tyler, Brad Whitford, und Joey Kramer (li. n. re.) wurden als Aerosmith zu Weltstarts.. © dpa | Matthias Balk

Nicht ohne Grund heißt passend zum angeborenen nervösen Ehrgeiz des Sängers der Titel seiner Biografie „Stört Dich der Lärm in meinem Kopf?“.

Nach Nashville geht Steven Tyler mit der Loving Mary Band – nicht mit Aerosmith – auf Tournee, die ihn im Sommer bis nach Europa führt. Vorher wird der Mann mit den Autoreifen-Lippen, in dessen Kopf sich noch immer Niagarafälle an Kreativität ergießen, aber erst heute noch schnell 70 Jahre alt. Glückwunsch, Steven Victor „Tyler“ Tallarico.

Sein Leben im Schnelldurchlauf: Geboren 1948 in der Bronx. Vater Pianist, Mutter Sekretärin. Normale Kindheit. Viel Outdoor-Frischluft im elterlichen Sommerhaus in Sunapee, New Hampshire.

Mit 15 war Tyler zum ersten Mal high

In der Schule eine männliche Pippi Langstrumpf gewesen. Mit 15 zum ersten Mal high. Hibbelig sowieso. „Schon als Jugendlicher konnte ich nachts nicht schlafen, weil ich immer darüber grübeln musste, wie ich wohl berühmt werden könnte“, sagte er einmal.

1969 Joe Perry getroffen. Bruder im Geiste. Begnadeter Gitarrist. Mit ihm in Woodstock im Schlamm gelegen und Janis Joplin angehimmelt.

Steven Tyler im Juni 2014 in Mailand. Die Herkunft seines Vaters war deutsch und italienisch geprägt, die seiner Mutter polnisch und englisch.
Steven Tyler im Juni 2014 in Mailand. Die Herkunft seines Vaters war deutsch und italienisch geprägt, die seiner Mutter polnisch und englisch. © dpa | Matteo Bazzi

Wechsel nach Boston. Ein Jahr drauf zusammen mit Perry, Tom Hamilton (Bass), Joey Kramer (Schlagzeug) und Ray Tabano (Gitarre) die Band Aerosmith gegründet. 1975 „Toys in the Attic“ veröffentlicht. Superstarstatus erreicht.

Knochenharter Rock und Boogie-Woogie

Konzerte der Band werden fortan zu einer Mischung aus Hitfeuerwerk und animalischer Mitklatschhölle. Tylers Markenzeichen: eine Kratzbürsten-Stimme, die Trommelfelle und Teenager-Herzen zu piercen in der Lage war.

Was sollte denn, bitte schön, jetzt noch kommen? Abstürze, Zusammenbrüche, Suff, Koks, Entziehungskuren. Hepatitis C. Kehlkopfoperation. Und Wiederaufstiege. Jede Menge Wiederaufstiege.

„Permanent Vacation“ markierte 1987 das erste Comeback nach drogeninduzierter Zwangspause und Sie-hassten-sich-und-sie-vertrugen-sich-Streitereien, „Get A Grip“ 1993 das zweite. 2012 dann „Music From Another Dimension“. Nicht wirklich der Rede wert.

Dazwischen ein dickes Songbook der Superlative: „Mama Kin“, „Love In An Elevator“, „Walk This Way“, „Living On The Edge“, „Dream On“, „Janie’s Got a Gun“, „Sweet Emotion“, „Crazy“, „I Don’t Want to Miss a Thing“ und, und, und.

Überzuckerte Schmusenummern, knochenharter Wummer-Rock. Boogie und Woogie. Blues und Bombast. Wo die Luftschmiede wirkten, wehte immer ein heißer Wind.

Tyler und Co. verkauften 150 Millionen Platten

Ähnlich erfolgreich wie Vater Steven: Schauspielerin Liv Tyler wurde dank ihrer Rolle in „Der Herr der Ringe“ weltbekannt.
Ähnlich erfolgreich wie Vater Steven: Schauspielerin Liv Tyler wurde dank ihrer Rolle in „Der Herr der Ringe“ weltbekannt. © picture alliance/AP Photo | dpa Picture-Alliance / Grant Pollard

Und mittendrin der Harlekin vom Dienst, der, wenn er nicht gerade Akrobatik am Mikrofonständer vollführt, sich die Stimme bis zur Heiserkeit malträtiert und auch nach drei Stunden Rampensaudasein noch Testosteron für eine ganze Fußballmannschaft in sich hat.

Der Lohn: 150 Millionen verkaufte Platten. Und ein Stammplatz im Zoo der Rock-Saurier, die sich mithilfe von Glück, guten Ärzten und Humor dem Artensterben widersetzen.

Steven Tyler, Vater von Liv Tyler, der in „Herr der Ringe“ der Durchbruch gelang, sagte es einmal so: „Ich habe in meinem Alter nichts gegen Augenringe. Sie müssen farblich nur zu meinen Schuhen passen.“ Damals war er gerade fünfzig.