Salzwedel . Helga Weyhe ist mit 95 Jahren Deutschlands älteste Buchhändlerin. Ein Besuch bei ihr in der Altmark ist wie eine Reise in alte Zeiten.

Begleitet von einem lauten Klingeln, springt die Tür auf. Kundschaft. Den Gehstock links liegen lassend kommt Helga Weyhe aus ihrem Büro und bedient. So, wie sie es schon immer gemacht hat. Wortwörtlich. „Ich habe mein erstes Buch bei ihr gekauft und werde mein letztes Buch bei ihr kaufen“, sagt die Kundin. Helga Weyhe ist Deutschlands älteste Buchhändlerin. Gerade hat die kleine Frau mit den weißen Haaren ihren 95. Geburtstag gefeiert.

Vielleicht passt es sogar, dass sich ausgerechnet hier, in Salzwedel in der Altmark, ganz im Norden von Sachsen-Anhalt, einem Landstrich, von dem viele Spötter sagen, dort sei die Zeit stehen geblieben, ein solches Kleinod halten konnte. Gerade musste eine der drei anderen Buchhandlungen in der kleinen Hansestadt schließen. Das Geschäft steht jetzt leer. Wie so viele andere. Auch die Zeit des Beate-Uhse-Laden nebenan, der erst nach der Wende eröffnete, ist schon wieder abgelaufen.

Der Krieg unterbricht ihr Studium

Doch Helga Weyhe bleibt standhaft. Seit 1871 ist das Haus, in dem auch das Geschäft ist, in Familienbesitz. 1922 wird sie dort geboren. „Als Kinder durften ich und meine Schwester sonntags zwischen den Büchern spielen“, erinnert sie sich. Geändert hat sich seitdem nicht viel. Die Einrichtung, die dunklen Holzregale und der knarrende Fußboden stammen von 1880.

Als junge Frau zieht es Helga Weyhe in die weite Welt. Raus aus der Provinz. Sie studiert Germanistik und Geschichte in Breslau, Königsberg und Wien – damals Städte des Deutschen Reichs. Doch den Abschluss kann sie nicht machen. 1944 kehrt sie nach Salzwedel zurück. „Ich war froh, noch am Leben zu sein“, sagt sie.

In der DDR spezialisiert sie sich auf Fachbücher

Erstmal den Winter überstehen, habe sie sich damals gedacht – „und dann bin ich doch geblieben“. Dabei hat Helga Weyhe schon noch von der Ferne geträumt. Wie der Held in ihrem Lieblingsbuch „Stoffel fliegt übers Meer“ von Erika Mann. Darin schleicht sich der zehnjährige Stoffel in ein Zeppelin, um seinen Onkel in Amerika zu besuchen. Auch Helga Weyhe hatte einen solchen Onkel. Buchhändler in New York. „Da wäre ich schon gerne mal hingereist“, erzählt sie. „Aber erst waren die Braunen da, dann kam der Krieg, und dann kamen die Roten.“

Stattdessen sucht sie Zuflucht in Büchern. „Da ist man in einer Welt, die einem angemessen ist. Nicht in einer Diktatur“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Bücher sind Freiheit. Deshalb sind sie auch so gefährlich.“ In der DDR spezialisiert sich Helga Weyhe – die den Laden seit 1965 alleine führt – auf Lehrbücher und Bildbände. Enteignet wird sie nie.

Sie verkauft nur, was ihr selbst gefällt

Die zierliche Frau kann sich eben durchsetzen – und hat bis heute ihren eigenen Kopf. Das bekommen auch schon mal Kunden zu spüren. Helga Weyhe verkauft nur, was ihr selbst gefällt. „Ich mag keine Dutzendware. Ein gutes Buch sollte auch Ansprüche an den Leser stellen.“ Krimis zum Beispiel kommen ihr nur selten ins Regal. „Das Leben ist schon düster genug.“ Stattdessen gibt es bei ihr Erstausgaben, Sammlerbände, historische Editionen. Goethe, Fontane, Lessing. In jeder Ecke stehen Bücher. Selbst ihre Wohnung oberhalb des Ladens gleicht einer antiken Bibliothek.

Für das Geschäft verzichtet sie auf Mann und Kinder

Warum tut sie sich das noch an? Jeden Tag, montags bis samstags arbeiten? „Das hier ist mein Zuhause. Ich kann nicht anders“, sagt sie. Immer, wenn sie dabei war andere Pläne zu machen, schlug das Schicksal zu. Wie 1989. Helga Weyhe war gerade 67. Zeit für die Rente. „Dann aber ging’s ja erst richtig los“, erinnert sie sich mit Blick auf die vielen Bücher, die plötzlich verfügbar waren.

Sie habe eben ihr Leben dem Geschäft und den Büchern verschrieben. Auch wenn sie dafür auf Mann und Kinder verzichtet hat. „Natürlich gab es Dinge, die man sich mal anders gewünscht hätte – aber die Zeiten wollten es eben nicht“, sagt Helga Weyhe.

Ein Nachfolger ist nicht in Sicht

Sie hadert nicht. Auch wenn sie etwas traurig wird, wenn sie an die Zukunft denkt. Mit ihr wird dann ein Stück deutsche Buchhandelsgeschichte verschwinden. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. „Ich mache das so lange, bis ich umfalle.“

Wieder klingelt es. Wieder Kundschaft. Ein pensionierter Landesminister kommt in den Laden. Doch hier ist sie der Chef – und für den Ex-Politiker nur „Frau Weyhe“. Er sucht ein Buch für seine erwachsene Tochter. Helga Weyhe empfiehlt „Tyll“ von Daniel Kehlmann. Gekauft. Keine Widerrede. Leicht schwankend geht sie wieder zurück in ihr Büro. Bald ist Mittagspause. Jetzt aber setzt sie sich erst mal auf den gepolsterten Drehstuhl und tut das, was sie am liebsten macht: ein Buch lesen.