München. In „Die Wahrheit“ stoßen die „Tatort“-Ermittler nicht nur beruflich, sondern auch privat an Grenzen. Das macht den Film sehenswert.
So eine beklemmende Eröffnungsszene hat man im „Tatort“ selten gesehen. Der belebte Münchener Leonrodplatz am Tag, eine Familie auf dem Weg zum Einkauf: Plötzlich liegt da ein Mann auf dem Asphalt. Der Familienvater will ihm aufhelfen, reicht ihm die Hand. Da sticht der Fremde auf ihn ein, rammt ihm ein Messer in die Brust.
Als Batic am Tatort eintrifft, brüllt er: „Auf offener Straße! Vor dem kleinen Jungen! Ich will ihn kriegen, dieses kranke Arschloch!“ Die Nerven liegen blank.
Der neue Fall der Münchener Ermittler Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) ist von der ersten bis zur letzten Szene ungewöhnlich. Der Mord ohne Motiv bringt die Kommissare an ihre Belastungsgrenzen. Erst ist es nur Batic, dem man die Überforderung nach 25 Dienstjahren anmerkt: Schlaflos ist er, angegriffen. Bei einer Verfolgungsjagd zu Fuß hängt der Flüchtende ihn locker ab. Folgerichtig also, dass der Dezernatsleiter Kollege Leitmayr die alleinige Leitung der Soko überträgt.
Leitmayr und Batic gehen an ihre Grenzen
Eine zündende Idee hat auch der nicht. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, die Zeugenaussagen sind unbrauchbar, Leitmayr versteigt sich schließlich in der Idee, Tausende Männer zu einem Massengentest einzubestellen. Der Aufwand ist enorm, das Ergebnis ernüchternd: Der Fall zieht sich über ein halbes Jahr hin und erscheint nicht mehr lösbar. „Die Wahrheit“ (Buch: Erol Yesilkaya, Regie: Sebastian Marka) bricht mit den gängigen Erzählmustern des Formats.
Sechs Monate Ermittlungsarbeit, verdichtet in 90 Minuten – selten hat ein „Tatort“ derart breit erzählt. Man spürt, wie mühsam und frustrierend echte Polizeiarbeit oft ist, wie sehr Fehlschläge an den Nerven der Beamten zehren. François Werner, der die Fan-Homepage „tatort-fundus“ betreut, spricht deswegen von einem „Knaller-Tatort“: „Genau das ist auch ein Anspruch des ,Tatorts‘, die Realität zu zeigen.“
Lisa Wagners letzter Auftritt
Fortschritte machen die Ermittler erst, als Fallanalytikerin Christine Lerch (Lisa Wagner) sich einschaltet. Auch Lerch leidet unter dem tristen Polizistenalltag, ihr kleines Büro empfindet sie als „Zelle“. Sie ist das letzte Mal im „Tatort“ zu sehen – Schauspielerin Wagner steigt aus.
Als wären die Kommissare nicht genug geplagt mit ihren Ermittlungen und dem überstürzten Lerch-Abschied, leidet auch noch ihre Freundschaft. Aber sie zerbricht nicht. Auf eines ist in München-„Tatorten“ Verlass: Am Ende raufen sich Batic und Leitmayr zusammen. Ihre finale Umarmung ist einer der wenigen Lichtblicke dieses düsteren Ausnahmekrimis.
Fazit: Ein Film, der sich nicht an die „Tatort“-Konventionen hält. Bitterer Fall, bedrückende Bilder. Ein Höhepunkt der Batic/Leitmayr-Ära.
ARD, 23. Oktober, 20.15 Uhr