Berlin. Kinder und Jugendliche leiden unter der Corona-Pandemie - wie stark, bleibt oft verborgen. „Hart aber fair“ nahm sie in den Fokus.

Hanan (19) aus Essen-Katernberg machte tagtäglich einen gigantischen Job: Während sie an ihrem Handy den Stoff für ihre Ausbildung zur Sozialassistentin lernte, kümmerte sie sich gleichzeitig um die vier Geschwister zwischen 4 und 17 Jahren, die an nur zwei Tablets ihre Schulaufgaben lösten. Die Eltern arbeiteten beide, die Schulen waren dicht.

"Es ist nicht so, dass wir nicht zurechtkämen. Aber es ist voll anstrengend", berichtete die junge Syrerin, auf Stippvisite bei "Hart aber fair" an diesem Montag. In dem Wochentalk, der diesmal dem Leidensdruck der Kinder und Jugendlichen in Zeiten der Pandemie gewidmet war, schilderte sie dann, mit welchen Schwierigkeiten sie sich im Alltag des Distanzunterrichts regelmäßig herumschlagen musste.

"Hart aber fair": Das waren die Gäste

  • Anja Karliczek (CDU), Bundesministerin für Bildung und Forschung
  • Mareile Höppner, Moderatorin des ARD-Magazins "Brisant"
  • Aladin El-Mafaalani, Soziologe, Autor und Professor am Institut für Migrationsforschun und interkulturelle Studien
  • Susanne Epplée, Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums Hamburg-Ost in Billstedt
  • Thorsten Frühmark, Rechtsanwalt und Ortsbürgermeister von Möllenbeck

In dem einen Zimmer, erzählte sie, wo alle fünf Geschwister auf Sofa, Sessel und Boden zusammenhockten, "ist es immer laut", chaotisch auch. Manchmal würde deshalb auch schon mal eine Mail an die falsche Lehrerin versendet. Oder die Aufgaben kamen nicht rechtzeitig an und wurden nicht mehr bewertet, nur weil das WLAN zu schwach war.

Schulschließungen wegen Corona: „Stille Helden“ im Mittelpunkt

Kein Einzelfall, aber ein konkretes Beispiel, das mit dem Besuch im Kölner Studio sowie mit einem Einspieler die Belastungen aller Kinder nachvollziehbar machen sollte: Seit anderthalb Jahren durften Schüler fast durchgehend nicht mehr zur Schule gehen oder unbeschwert ihre Freunde treffen.

Ansonsten eher als "Gesundheitsgefährder für andere" betrachtet, standen diese "stillen Helden", die bisher klaglos die Pandemie erduldet hatten, nun wenigstens 75 Minuten lang im Mittelpunkt von "Hart aber fair". Und damit die zugespitzte Frage von Frank Plasberg im Raum: Was war schlimmer, die Gefahr durch Ansteckung oder die seelischen Schäden durch Schulschließungen?

Soziologe befürchtet "ein Jahrzehnt Bildungsprobleme"

"Anderthalb Jahre ohne regulären Schulbetrieb ist für Grundschüler eine sehr lange Zeit, für sie wirkt das wie fünf bis zehn Jahre", befand schon mal Aladin El-Mafaalani, Professor am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.

Gerade Kinder aus sozialen Brennpunkten, denen es vorher schon schlecht ging, waren besonders betroffen, erklärte er weiter. Denn es wäre nicht alleine die fehlende Hardware, durch die sie im Distanzunterricht abgehängt würden. "Schule ist mehr als nur Lernort", erläuterte er: Sie sei ein sozialer Ort, an dem die Kinder zusammen mit Gleichaltrigen ihre soziale Kompetenz einübten, und nicht zuletzt auch ein Ort der Integration.

"Migrantenkinder sprechen oft nur in der Schule Deutsch. Wenn die geschlossen ist, verlernen sie die Sprache wieder", befürchtete er, und verwies besonders auf die Sprachlernprogramme in den Kitas, die wegen Corona ganz gestoppt worden seien: "Diese Kinder werden jetzt eingeschult", warnte der Soziologe. Wenn nicht sofort "eine richtige Offensive gestartet wird, um die entstandenen Defizite auszugleichen", befürchte er "ein ganzes Jahrzehnt Bildungsprobleme".

Lockdown-Auswirkungen bei Kindern: Kopfweh und Übergewicht

Auch Susanne Epplée, Kinderärztin und Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums in Hamburg-Billstedt, beobachtete "gewaltige Spuren", die der Lockdown bei benachteiligten Kindern hinterließ: Stresssymptome mit unspezifischem Bauch- oder Kopfweh, zum Beispiel.

Statt der üblichen etwa 50, warteten in dem Billstedter Diagnostikzentrum nun an die 400 Kinder auf einen Therapieplatz: "Wie sollen wir die alle unterbringen?"

Auch wurden bei behinderten Kindern in dieser Zeit körperliche Fehlstellungen nicht behandelt "und müssen nun operiert werden", zählte sie bei "Hart aber fair" auf. Ganz zu schweigen von den noch unabsehbaren Gesundheitsfolgen des Übergewichts, das viele Kinder jetzt auf die Waage brachten, weil sie keinen Sportunterricht mehr hätten: In einer Umfrage gaben 38 Prozent der Schüler an, sich so gut wie gar nicht mehr zu bewegen. Vor dem ersten Corona-Lockdown waren es gerade mal vier Prozent.

Jugendliche im Lockdown: Weniger Sport, mehr Medienkonsum

Per Video zugeschaltet aus Leipzig bemängelte auch Mareile Höppner den Ausfall des Sportunterrichts: "Es ist nicht nur, dass sich die Kinder weniger bewegen, es ist auch die höhere Medienzeit", beklagte sie, weshalb sie mit ihrem zehnjährigen Sohn inzwischen feste Medienzeiten ausgehandelt hätte.

Auch interessant: Corona: Karte zeigt Inzidenz bei Kindern in Ihrer Region

Die Moderatorin des ARD-Magazins "Brisant", selbst ursprünglich examinierte Lehrerin, plädierte auch dafür, "die Pandemie im Unterricht zu thematisieren und zusammen mit den Kindern aufzuarbeiten", um die seelischen Auswirkungen zu mildern.

"Hart aber fair": Bürgermeister beklagt willkürliche Regeln

Thorsten Frühmark, Bürgermeister von Möllenbeck in Mecklenburg-Vorpommern, fand dagegen die bundeseinheitliche Distanzunterricht-Regelung bei einer Inzidenz von 165 nicht nur willkürlich, sondern auch gefährlich: "Wir müssten auf die Inzidenz in den Schulen sehen, die ist höher als bei den Erwachsenen", warnte er. Deshalb hatte er seine eigenen drei schulpflichtigen Kinder seit Dezember nicht mehr in den Präsenzunterricht gelassen.

Neben uneinheitlichen Hygiene-Konzepten bemängelte er auch den fehlenden Pragmatismus im durchgenormten TÜV-Land Deutschland: Für die kleine Dorfschule an seinem Ort hätte der Gemeinderat den Einbau einer Lüftungsanlage aus Kostengründen abgelehnt. Als dann die Eltern die Investition für eine mobile Anlage für ihre Klasse übernehmen wollten, durften sie nicht, weil die Nachbarklasse nicht ebenfalls eine bekommen hätte.

Anja Karliczek verspricht Planung eines Aufholprogramms

Da hatte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek als Vertreterin der Politik in dieser "Hart aber fair"-Runde keinen einfachen Stand. Ein ums andere Mal beeilte sie sich zu versichern, dass die Kultusminister die schwierige Lage der Schüler im Blick hätten. "Aber der Staat hat auch eine Sorgfaltspflicht, für sicheren Unterricht zu sorgen", verteidigte sie den Distanzunterricht.

Eine Verlängerung des Schuljahres, um den ausgefallenen Präsenzunterricht nachzuholen, hielt sie nicht für durchführbar. Dafür würde sie aber ein Aufholprogramm planen, um durch "massive Investitionen in vorhandene Strukturen die größten Defizite auszugleichen". Das klang nicht schlecht, aber eben auch mehr nach "erst einmal", statt nach "grundsätzlich" oder gar "sofort". Allerdings lag die Zuständigkeit in Sachen Schule auch bei den Ländern und nicht bei ihrem Ministerium.

"Hart aber fair": Das waren die vergangenen Sendungen