Hamburg. Unter Corona-Bedingungen, mit viel Abstand und in kleinen Gruppen, hat Hamburgs Ballett-Chef Neumeier sein neuestes Stück „Ghost Light“ produziert.

John Neumeiers Ballett „Ghost Light“ suggeriert, dass die Bühne nie leer bleibt, dass sie stets erfüllt ist von den Geistern der Figuren, den Seelen und Energien der Künstler, die sie je belebt haben.

Das in Amerika tatsächlich übliche Ghost Light, das die gewerkschaftlich überwachte Theaterpause anzeigt, wird bei ihm so zu einem ewigen Lämpchen der lebenden und gewesenen Theaterschaffenden, zum unerlöschlichen Licht der Fantasie und Kreativität.

Diese wunderbare Mischung aus Reminiszenez und trotziger, auch im Lockdown nicht versiegter Schaffenskraft vermittelt auch die DVD-Aufnahme des Stücks, das im Oktober 2020 beim Gastspiel in Baden-Baden vor Publikum mitgeschnitten wurde (Label Euro-Arts). Kein Geringerer als David Fray war dort der live am Klavier Schuberts meist zart-melancholische, manchmal fröhlich-bewegt auftrumpfende „Moments musicaux“ und „Impromptus“ auslotende Pianist. Schon dies ein Vergnügen.

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Silvia Azzoni und Alexandre Riabko in einem Duett aus dem Ballett „Ghost Light“, das am 6. September 2020 an der Staatsoper Hamburg uraufgeführt wurde und nun als DVD vorliegt.
Silvia Azzoni und Alexandre Riabko in einem Duett aus dem Ballett „Ghost Light“, das am 6. September 2020 an der Staatsoper Hamburg uraufgeführt wurde und nun als DVD vorliegt. © dpa | Markus Scholz

Wenn er leicht perlend die schnellen Läufe des Es-Dur-Impromptus in den Saal wirbelt und sich Karen Azatyan und Atte Kilpinen dazu leichtfüßig selbst übertreffen in flinker Beinarbeit und sich übermütig einen Stuhl zuwerfen, erzeugt das sehr schön jene Stimmung von weltvergessener Ausgelassenheit, die in diesen Corona-Tagen kaum mehr entsteht.

Andererseits scheint Alexei Martinez, wenn er seine einsamen Bahnen durch das Tanzgeschehen der nur in kleinen Gruppen auf Abstand platzierten Tänzer und Tänzerinnen zieht, noch die Vereinzelung des ersten Lockdowns zu spiegeln, in denen auch die Tänzer der Hamburger Compagnie zu Hause in ihren Wohnungen auf einem zwei mal drei Meter großen Stück Linoleum-Tanzboden ihre Exercisen machten. Eng liegen die Arme an Martinez’ Körper, beengt wirken die Ausflüchte, oft wankt er auf der Stelle, viele Menschen fühlen sich bis heute so.

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Geschickt führt Neumeier solche aktuellen Figuren durch die kleinen synchronen Gruppen, die in ihren oft luftig über die Bühne rollenden Trainings-Exercisen die beflügelnde Leichtigkeit des Tanzes wieder in Erinnerung rufen.

Zartes Umschmiegen und Entgleiten im Pas de deux

Damit wechseln Anziehung und Abschiede in Paarbeziehungen, von denen man kaum sagen könnte, ob sie eine moderne Lockdown-Erfahrung oder klassische Romanze sind. Zu Frays poetisch weichem Ges-Dur-Impromptu tanzen Anna Laudere und Edvin Revazov solch vertrautes Umschmiegen, das in einem zarten Entgleiten endet, als wäre die Frau nur noch eine Erinnerung. Sehr erotisch schmilzt David Rodriguez in einem anderen Duett auf den Rücken von Matias Oberlin.

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Neumeier lässt auch Zitate aus seinen Balletten über die Kameliendame, den Nussknacker und Tanz-Ikone Nijinsky einfließen. Diesen erfasst Alexandre Riabko mit autistisch wiederholten Figuren auf engstem Raum. Im Pas de deux sekundiert er Silvia Azzoni, dem Geist der Primaballerina schlechthin, die sich als zerbrechliches Wesen von der Art der kleinen Meerjungfrau erweist, die sie einst bei Neumeier tanzte.

Das Ballett erschafft eine magische Atmosphäre, die Reales, Erträumtes und Erinnertes oft zeitgleich aufruft und am Ende engführt zu einem letzten verzehrenden Blick auf das Ghost Light.