Berlin. Karl Lauterbach macht im Talk von Plasberg eine Teststrategie zur Bedingung für Öffnungen. Kritik hagelt es am Stiko-Chef Mertens.

Zwei Tage vor dem nächsten Corona-Gipfel von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten lud Frank Plasberg am Montagabend bei „Hart aber fair“ zur etwas anderen Krisenrunde: Eine Lehrerin, eine Lungenärztin, ein Unternehmer, ein Koch und Talkshow-Seriengast Karl Lauterbach sollten über das Thema der Woche diskutieren. Lesen Sie auch: Coronakrise: Auf diese Experten hört Kanzlerin Angela Merkel

Es blieb beim Versuch – zu stark unterschieden sich die Perspektiven der Beteiligten. Immerhin gab es Einblicke zu Lebensrealitäten im Dauerlockdown. Zugleich wurde deutlich, dass der gesellschaftliche Konsens bröckelt und die Solidarität mit den „von oben“ verordneten Maßnahmen Risse bekommen hat. So war die ARD-Sendung auch Spiegelbild einer Pandemie-müden Republik. Auch interessant: Astrazeneca-Impfstoff: Überraschende Wirkung bei Älteren

„Hart aber fair“ - Das waren die Gäste:

  • Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Bundestagsabgeordneter, Gesundheitsökonom und Epidemiologe
  • Nelson Müller: Sternekoch und Restaurant-Besitzer
  • Michael Busch: Vorsitzender der Buchhandelskette Thalia
  • Lamya Kaddor: Publizistin, Lehrerin für Islamische Religion an einem Gymnasium in Duisburg
  • Dr. Jördis Frommhold: Chefärztin an der Median Klinik Heiligendamm, Lungenfachärztin

„Viel Druck im Kessel: Wie lange ist ein Lockdown noch zu halten?“ lautete das Thema, durchaus reißerisch formuliert. Und Plasberg ließ keinen Zweifel daran, dass er seinen Talk „na bei de Leut“ verorten wollte – eine Anspielung auf eine Ansprache des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, der diese mit dem Satz beendet hatte: „Die Leute haben die Schnauze voll.“

Interaktiv: Impfmonitor: So wird in Deutschland gegen Corona geimpft

Hinzu kommen sich häufende Berichte über fatale Fehler im Krisenmanagement der Politik. Mit Ausnahme von Lauterbach setzte Plasberg auf Gäste, die täglich mit den Folgen der Pandemie konfrontiert werden. Ein schlüssiges Gesamtkonzept konnten auch sie nicht beisteuern, dafür Anschauungsunterricht aus dem „echten Leben“.

„Hart aber fair“: Thalia-Chef klagt über fehlende Öffnungsstrategie

Michael Busch, Geschäftsführer der Buchhandelskette Thalia, ließ seinem Ärger über die Politik gleich freien Lauf. Es gebe keine von ihm „wahrgenommene Öffnungsstrategie“, das Ganze sei „ein Desaster“. Der Firmenchef berichtete, wie sein Unternehmen das Kurzarbeitergeld auf 100 Prozent aufgestockt habe und weiter versuche, alle Filialen „am Leben zu halten“.

Michael Busch, Vorsitzender der Geschäftsführung der Buchhandelskette Thalia.
Michael Busch, Vorsitzender der Geschäftsführung der Buchhandelskette Thalia. © WDR/Dirk Borm

Aber langsam gehe das Geld aus, weil die Geschäfte dauerhaft geschlossen bleiben müssten: „Der Handel stirbt, und die Regierung sieht tatenlos zu. Wir müssen von der Eindimensionalität wegkommen.“ Auch die Duisburger Lehrerin Lamya Kaddor beklagte die Nachteile des Lockdowns. Den Kindern drohten „schwerwiegende psychische Schäden“, weil sie „nur zu Hause rumhängen“, statt die Schule zu besuchen. Auch interessant: Corona-Krise: So steigt der Therapiebedarf bei Kindern

Nelson Müller: „Der Supermarkt ist das neue Ausgehen“

Restaurantbesitzer und TV-Koch Nelson Müller bekannte, die Gastronomie sei „schon in den vergangenen Jahren ein filigranes Gebilde gewesen“, jetzt falle es ihm schwer, zu sehen, dass nun „alles brachliegt“. Müller betreibt eins seiner Lokale direkt neben einem Lebensmittel-Discounter und wundert sich über den großen Andrang: „Der Supermarkt ist das neue Ausgehen, so voll wird es bei uns nie werden.“

Sterne-Koch Nelson Müller wünscht sich
Sterne-Koch Nelson Müller wünscht sich "mehr Klarheit von der Politik". © ARD/WDR

Dennoch habe er Verständnis für die allgemeinen Schutzvorkehrungen, er wünsche sich aber „mehr Klarheit von der Politik“. Pädagogin Kaddor fordert, dass die Regierenden „genauer hinschauen“, intensiver testen und „flexiblere Lösungen finden“. Es sei ja eine Illusion, zu glauben, dass Corona überwunden werden könne: „Wir müssen damit leben.“ Auch interessant: Totgeburten: Wie gefährlich ist Corona für ungeborene Babys?

Ärztin über Corona-Spätfolgen: „Das wünschen Sie keinem“

Jördis Frommhold hat einen anderen Blick auf die Pandemie. Als Chefärztin einer Rehaklinik in Heiligendamm werde sie mit „Spätfolgen konfrontiert, die man gar nicht auf dem Zettel hatte“. Viele Covid-Patienten kämen mit einer „Leistungsfähigkeit nahe Null“ in die Einrichtung, könnten kaum Treppen steigen.

Bei manchen träten Monate nach Ende einer zunächst glimpflich verlaufenen Erkrankung chronische Müdigkeit oder sogar Demenzsymptome auf. Offenbar bewirke das Virus Schäden am Autoimmunsystem, die Forschung hierzu stehe aber „noch ganz am Anfang“. Die Patienten der Klinik seien zwischen 19 und 86 Jahren alt. Bleibende Schäden könnten auch Jüngere treffen: „Was wir hier mitunter sehen, das wünschen Sie keinem.“

Lauterbach: "Lockdown zu schwach, um Virus-Mutation aufzuhalten"

Vier Menschen, vier Geschichten. Die Talkgäste sprechen für sich und über andere, aber kaum miteinander. Da ist es gut, dass Plasberg noch den Corona-Routinier Karl Lauterbach in Reserve hat. Dreißig Minuten hat der Mediziner und SPD-Bundestagsabgeordnete geschwiegen, nun warnt er wie so oft vor einer vorschnellen Rückkehr zur Normalität.

Dafür, dass er sich entgegen früheren Forderungen nun auch für Lockerungen ausspricht, hat Lauterbach eine überraschende Erklärung: „Der Lockdown, den wir jetzt haben, ist zu schwach, um die britische Virus-Mutation aufzuhalten.“ Diese könne die 50- bis 80-Jährigen „voll erwischen“. Er wolle deshalb „aus der Not eine Tugend machen“ und durch eine Teststrategie bei gleichzeitiger Öffnung Infektionsherde aufdecken und gezielt bekämpfen.

Corona-Schnelltest: Vier von zehn Fällen zeigen falsches Ergebnis

Aber auch Lauterbach räumt ein, dass Massentests kein Allheilmittel sind. Selbst „sehr gute Tests“ würden bei Menschen ohne Krankheitssymptome vier von zehn Infektionen nicht anzeigen. Deshalb müssten solche Verfahren immer in Gruppen durchgeführt werden, ob in der Schule oder in Betrieben, damit Ansteckungsverläufe erkennbar würden.

Er warne vor „Schnellschüssen“ und einer unkontrollierten Abgabe der Tests zur privaten Verwendung: Gebe man die „zum Selbsttesten frei, werden wir die dritte Welle nicht verhindern. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“ Die Bundesregierung hoffe, in Kürze über „100 Millionen hochqualitativer Tests“ zu verfügen. Gelinge dies, rechnet Lauterbach mit einer Öffnung nicht vor „Mitte bis Ende März“. Lesen Sie dazu: Drogeriekette dm will Schnelltests ab 9. März verkaufen

Denn dazu braucht es nach Überzeugung des SPD-Politikers das umfassende Testprogramm der Gesundheitsämter, das es noch gar nicht gibt. Und mehr Impfstoff, der auch verabreicht wird. Auch interessant: So wirksam ist der neue Impfstoff von Johnson & Johnson

Astrazeneca: 1,5 Millionen Dosen lagern in Depot

Derzeit lagern rund 1,5 Millionen Dosen des Vakzins von Astrazeneca ungenutzt in den Depots, eine weitere Million will der Pharmakonzern in den nächsten Tagen nach Deutschland liefern. Dass die für die Impfreihenfolge zuständige Ständige Impfkommission unter ihrem Chef Thomas Mertens hierfür noch kein Konzept vorgelegt hat, brachte die Talkrunde am Ende dann doch in Wallung.

Thalia-Chef Busch: „Ich bin fassungslos, das macht einen ja verrückt.“ Selbst Moderator Plasberg gab für einen Moment jede Neutralität auf: „Gibt es jemand, der Herrn Mertens mal Beine machen kann?“

„Hart aber Fair“ - So liefen vergangene Folgen: