Berlin. Der Strafgerichtshof in Den Haag will Putin vor Gericht stellen. Wahrscheinlich ist ein Prozess aber nicht. Die wichtigsten Antworten.

Es gibt diese Szene im russischen Staatsfernsehen. Maria Lwowa-Belowa sitzt vor Präsident Wladimir Putin. Die Frau ist „Beauftragte für Kinderrechte” des russischen Staates, und Putin fragt: „Sie haben selbst ein Kind aus Mariupol adoptiert?“ Lwowa-Belowa antwortet: „Ja, Wladimir Wladimirowitsch, dank Ihnen!“

Maria Lwowa-Belowa ist nun beschuldigt. Und nicht nur das. Auch Wladimir Putin. Gegen den russischen Präsidenten und die „Kinderbeautragte“ hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag nun Haftbefehl erlassen: Putin ist weltweit gesuchter mutmaßlicher Kriegsverbrecher. Doch was ist dieser Haftbefehl wert? Wir erklären die wichtigsten Punkte.

Was wird Putin vorgeworfen?

In einer Mitteilung des Gerichts heißt es, dass Putin verantwortlich ist „für das Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation von Menschen (Kindern)“ aus den besetzten Gebieten in der Ukraine nach Russland. Seit Monaten sammeln Staatsanwälte Beweise und Indizien, die nun zu dem Haftbefehl geführt haben. Drei Richter in einer „Vorverfahrenskammer“ haben die Unterlagen der Staatsanwälte geprüft – und offenbar ausreichend Belege für ein Kriegsverbrecher-Verfahren gesehen.

Nimmt Wladimir Putin ins Visier: Staatsanwalt und Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof Karim Khan
Nimmt Wladimir Putin ins Visier: Staatsanwalt und Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof Karim Khan © dpa | Peter Dejong

Was bedeutet der Haftbefehl für Putin?

Russland wird seinen Staatschef nicht an Den Haag ausliefern. Und genauso verfügt der IStGH nicht über eigene Polizisten, geschweige denn über das Recht, Putin in Russland festzunehmen. Russland hat den Strafgerichtshof bis heute zudem nicht anerkannt – ebenso wie die USA, China und Israel. Erst nach einem Machtwechsel könnte Putin eine Auslieferung drohen. Ein Verfahren in Den Haag ohne den Angeklagten vor Ort ist nicht möglich.

Putins Reisefreiheit aber sei deutlich eingeschränkt, sagt Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann im Gespräch mit unserer Redaktion. Hoffmann ist aktuell im Auftrag der EU in der Ukraine und hilft der dortigen Justiz bei Ermittlungen zu Kriegsverbrechen. „123 Staaten sind nun verpflichtet, ihn auszuliefern, wenn er deren Territorium betritt. Die Hoffnung des Strafgerichtshof ist sicher auch das Signal an alle, die sich im russischen Machtapparat an den Verschleppungen von Kindern aus der Ukraine beteiligen. Vielleicht kann es einzelne zum Umdenken bewegen“, sagt Hoffmann.

Was ist an den Vorwürfen gegen Putin dran?

In den vergangenen Monaten verdichteten sich die Hinweise im Westen, dass Russland illegal Kinder und Jugendliche aus der Ukraine verschleppt. Der Chefankläger des Strafgerichtshofs, Karim Khan, war selbst Anfang März in der Ukraine, um dieser Spur nachzugehen. Im Mai 2022 hatte Putin ein Dekret unterschrieben, sodass ukrainische Kinder schnell in Russland eingebürgert werden können.

Erst vor wenigen Wochen veröffentlichte die renommierte Yale-Universität einen umfangreichen Report und sammelte mit Hilfe von Zeugenbefragungen und Datenanalysen wichtige Hinweise auf mindestens 6000 Kinder aus der Ukraine, die nach Russland deportiert wurden – im Alter von vier Monaten bis 17 Jahre. Sie sollen demnach in Einrichtungen in mehreren russischen Städten leben. 43 dieser „Lager“ entdeckten die Fachleute, in 32 davon sollen auch „systematische Umerziehungen“ stattfinden, etwa Unterricht in „kultureller, patriotischer und/oder militärischer Bildung“.

Schmerz und Trauer im Kiewer Vorort Irpin im März 2022. Beim Einmarsch sollen russische Soldaten hier schwere Kriegsverbrechen verübt haben.
Schmerz und Trauer im Kiewer Vorort Irpin im März 2022. Beim Einmarsch sollen russische Soldaten hier schwere Kriegsverbrechen verübt haben. © Getty Images | Chris McGrath

Russland bestreitet die Vorwürfe, dass diese Deportationen illegal geschehen, sondern etwa mit Einverständnis der Eltern oder der ukrainischen Erziehungsanstalten wie etwa Waisenhäusern. Russland spricht von „Evakuierungen“. Der Yale-Report legt nahe, dass dies jedoch oft gegen den Willen der Eltern passiert. Oder die Kinder den Eltern unter falschen Versprechen entzogen werden.

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Schon der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist ein Bruch mit dem Völkerrecht. Bei den Anschuldigungen gegen russische Soldaten geht es nicht nur um verschleppte Kinder. Die Ukraine und internationale Beobachter werfen Russlands Armee vor, unschuldige Menschen zu foltern und zu töten. Auch über gezielte Vergewaltigungen von ukrainischen Frauen als Kriegstaktik berichten mehrere Stellen.

Nennt den Haftbefehl des IStGH „historisch“: Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj
Nennt den Haftbefehl des IStGH „historisch“: Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj © dpa | -

Welche Kritik gibt es am Gerichtshof?

Wichtige Großmächte wie USA und Russland haben das Gründungsstatut des IStGH bis heute nicht unterzeichnet – ein Manko. In der Vergangenheit gelang es dem Gericht dennoch, Verfahren gegen Kriegsverbrecher zu führen, die sich vor allem gegen Herrscher aus afrikanischen Staaten richteten, etwa gegen Libyens Diktator Gaddafi oder den kongolesischen Milizenführer Lubanga.

Ein Sondergericht in Den Haag verurteilte den früheren Serbenführer Karadzic und Ex-General Mladic. Verfahren aber gegen große Staaten eröffnete das Gericht bisher nicht – häufig fällt der Verweis auf die USA, die für ihren heute als völkerrechtswidrigen geltenden Angriff auf den Irak 2003 niemals international belangt wurden. US-Soldaten haben dort in mehreren Fällen Menschen gefoltert und unrechtmäßig getötet.

Wie sind die Reaktionen auf den Haftbefehl gegen Putin?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nennt den Haftbefehl „historisch“. US-Präsident Joe Biden nannte die Entscheidung des Gerichts in Den Haag „gerechtfertigt“. Auch Experte Hoffmann spricht von einer „enormen Bedeutung auch für die Menschen hier in der Ukraine“. Die Signalwirkung in Richtung Russland sei „deutlich“.

Dort aber bezeichnet die Regierung den Haftbefehl als „unverschämt und inakzeptabel“, so Kremlsprecher Peskow. „Entsprechend sind Entscheidungen dieser Art für Russland vom rechtlichen Standpunkt unbedeutend“.