Berlin. Der Gesundheitsminister prescht mit einem Neustart für die E-Akte vor. Kritik zum Datenschutz kontert er mit der Widerspruchsoption.

Großer Fortschritt oder der Weg zum gläsernen Patienten? Nach jahrelangem Gezerre soll die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland mit Anwendungen, die jeder Patient regelmäßig nutzt, für alle mehr Fahrt aufnehmen. Bundesminister Karl Lauterbach (SPD) stellte an diesem Donnerstag die Pläne für einen Neustart bei der elektronischen Patientenakte vor.

Eletronische Patientenakte: Ab wann soll die Nutzung verbindlich sein?

Wie der SPD-Politiker ankündigte, soll die Funktion ab Ende 2024 für alle verbindlich werden – es sei denn, man lehnt es ausdrücklich ab. Auch das E-Rezept soll von mehr Apotheken und Ärzten genutzt werden. Die Gesundheitsdaten der Deutschen, die dadurch gewonnen werden, sollen für die Forschung zugänglich sein. Deren systematische Auswertung kann wissenschaftliche Erkenntnisse entscheidend beschleunigen. Ein Vorbild dafür ist Israel, das vor mehr als 25 Jahren mit der Digitalisierung begann.

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E-Akte: Wie lange haben Ärzte und Patienten Zeit zu reagieren?

Obwohl die Diskussion über beide Anwendungen schon Jahrzehnte alt ist, weist Lauterbach die digitale Patientenakte und das E-Rezept als die zentralen Digitalisierungsaufgaben des Gesundheitsministeriums aus. 2025 muss sich der Gesundheitsminister dann daran messen lassen, ob mindestens 80 Prozent der gesetzlich Versicherten eine E-Patientenakte haben.

Im Jahr 2021 waren die Funktionen als freiwilliges Angebot eingeführt worden. Endlich in Schwung kommen soll auch die Nutzung von elektronischen Rezepten, deren Einführung in größerem Stil weiterhin stockt. In der bundesweit einzigen Pilotregion in Westfalen-Lippe wurden weitere Schritte im vergangenen Herbst vorerst auf Eis gelegt.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. © IMAGO/Chris Emil Jan√üen | IMAGO/Chris Emil Janssen

Was wird in der E-Akte gespeichert?

In den E-Akten sollen etwa Befunde, Röntgenbilder und Medikamentenlisten gespeichert und auf diese Weise unnötige Mehrfachuntersuchungen vermieden werden. Bisher nutzt aber nur ein Bruchteil der 74 Millionen gesetzlich Versicherten das Angebot. Bei der Vernetzung der Praxen gibt es Verzögerungen, bei mehreren Fragen schwelt Streit über den Datenschutz.

Im Koalitionsvertrag hatte die Ampel aus SPD, Grünen und FDP daher vereinbart, das Prinzip „Opt-out“ anzuwenden – soll heißen, dass jeder automatisch eine E-Akte bekommt oder aktiv widersprechen muss, wenn er das nicht will. Die alten Daten, die vor Einführung der E-Akte zu einem Patienten oder einer Patientin vorhanden sind, könnten zum Beispiel von den Hausärzten übertragen werden, sagte Lauterbach. Einen genauen Plan dafür gebe es noch nicht.

Elektronische Patientenakte: Welche Bedenken gibt es?

Datenschutzrechtler rechnen damit, dass sich bei Patienten mit besonders seltenen Krankheiten schnell Rückschlüsse auf die einzelne Person ziehen lassen. Außerdem würden voraussichtlich eher aufgeklärte, staatskritische Bürger der Nutzung ihrer Daten widersprechen. Deshalb fordern sie, besonders ältere Patienten besser über die „Opt-out“-Funktion zu informieren.

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Wer aktiv widerspricht, für den wird zwar keine elektronische Akte angelegt, der Gesundheitsminister rechnet aber dennoch mit Gegenwind – wenn auch mit wenig. „Die Akte hat nur Vorteile“, erklärte er. „Bei der Einführung in Österreich haben nur drei Prozent der Bürger widersprochen.“

Welche Informationen erhalten die Forscher und Pharmafirmen durch die E-Akte?

Die Informationen über den jeweiligen Patienten, seine Medikamente und sonstige Befindlichkeiten werden pseudonymisiert, das heißt, sie sind namentlich nicht mehr zuzuordnen. Eine vollständige Anonymisierung brächte der Forschung allerdings nicht die nötigen Datenreihen, um nachzuverfolgen, wie sich der Krankheitsverlauf eines Patienten entwickelt hat. Diese Reihen sind unter anderem für die Krebsforschung wichtig.

Aus jedem Jahr gibt es eine Momentaufnahme, die sich zu einer Langzeitbeobachtung zusammensetzen lässt. Ein Kriterium dafür, welche Forscher und Firmen Zugriff auf die Daten erhalten, soll unter anderem ein großes Gemeinwohlinteresse sein. Lauterbach behauptet, die Abwanderung von Biontech nach Großbritannien habe auch damit zu tun, dass das Pharmaunternehmen in Deutschland keine Patientendaten für die Forschung nutzen konnte.

Wer verwaltet diese sensiblen Informationen?

Die Daten aus der E-Akte liegen in der Telematikinfrastruktur der Gematik, also der nationalen Agentur für digitale Medizin. Sie betreibt die Server. Die Daten sind laut Gesundheitsminister Lauterbach nicht dezentral gelagert, die Server stehen im europäischen Raum.

Wie reagieren Ärzte auf die Pläne?

Die deutschen Hausärzte fordern alltagstaugliche Lösungen bei der flächendeckenden Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA): Die Bundesregierung müsse eine „praxistaugliche“ elektronische Patientenakte umsetzen, die den Ansprüchen an einen vernünftigen Datenschutz gerecht werde. „Einfach nur die elektronische Patientenakte in ihrer derzeitigen Ausgestaltung jedem Patienten verpflichtend zur Verfügung zu stellen, wäre sicherlich die schlechteste Lösung“, sagte der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, Markus Beier, dieser Redaktion.

Die elektronische Patientenakte habe das Potenzial, die Versorgung der Patienten deutlich zu verbessern und zu vereinfachen. Wichtig sei es aber, dass Patienten, die keine elektronische Patientenakte haben wollten, dieser einfach und schnell widersprechen könnten, auch ohne selbst IT-Experten zu sein. „Ansonsten sehen wir die Gefahr, dass Vertrauen in die elektronische Patientenakte verloren geht“, so Beier. Zudem seien intelligente Lösungen nötig, damit die Hausärzte zum Start der neuen Patientenakte nicht für tausende Patienten einzeln die bisherige Krankheitsgeschichte händisch in die digitale Akte eintragen müssten. „Diese Zeit ist schlichtweg nicht da“ so Beier. Vieles hänge darüber hinaus von den Praxisverwaltungssystem ab, also den Programmen, die die Ärzte auf ihrem Bildschirm sehen. Hier sei das Angebot nach wie vor „katastrophal“.

Die bisherigen Erfahrungen mit den Digitallösungen seien zum Großteil verheerend gewesen, mahnte der Hausärztechef: Anwendungen funktionierten nicht oder stürzten regelmäßig ab, die Prozesse dauerten ewig. „Das hat zu viel Frust geführt.“ Die Zeit in den Hausarztpraxen sei so knapp bemessen, dass man sich Verzögerungen durch nicht-funktionierende Digitalanwendungen nicht leisten könne. „Das muss sich ändern.“