Hamburg. Beim ESC bekam Deutschland zuletzt nicht mal mehr Mitleids-Punkte. Jetzt startet der Vorentscheid. Wer ist fit für Liverpool?

  • Deutschland erreichte beim Eurovision Song Contest zuletzt kaum noch gute Plätze
  • 2023 soll der ESC-Fluch jedoch gebannt werden – kann das klappen?
  • Die acht Kandidaten im ESC-Vorentscheid im Check

Der deutsche ESC-Vorentscheid 2023 steht vor der Tür. Dabei hat sich vieles geändert. Neues Jahr, neues Abstimmungskonzept: Der NDR wirkte in den vergangenen Jahren einigermaßen verzweifelt, wenn es darum ging, auf welche Weise man den deutschen Kandidaten für den Eurovision Song Contest finden sollte.

Warum nicht eine Jury aus Astrologen eine Vorauswahl treffen lassen, über die dann musikbegabte Menschenaffen aus der Aufzuchtstation online abstimmen? Beinahe alles andere wurde schon probiert, das Ergebnis war immer ähnlich: Punkte knapp unter der Nachweisgrenze – wenn es gut lief.

Deutscher ESC-Vorentscheid 2023: So wird abgestimmt

Bei „Unser Lied für Liverpool“ (Freitag, 22.20 Uhr im Ersten) wird es mit einem ausgeklügelten Verfahren zwischen Fachwissen und Intuition probiert: ein Mix aus Vorab-Online-Voting und Tele-Voting während der Show (zusammen 50 Prozent) sowie dem Urteil von Fachjurys aus sieben Ländern:

  • Schweiz
  • Niederlande
  • Finnland
  • Spanien
  • Litauen
  • Ukraine
  • Österreich
  • Vereinigtes Königreich

„Ziel ist es, Künstlerinnen und Künstlern aus vielen verschiedenen Genres eine Chance zu geben und damit auch größtmögliche musikalische Vielfalt zu bieten“, erklärt die NDR-ESC-Redaktion. Lesen Sie auch: Alles zum deutschen Vorentscheid

Benjamin Hertlein vom Fan-Blog „ESC kompakt“ ist schon mal zufrieden. „Zuletzt wurde immer nach dem radiotauglichen Massenhit gesucht“, sagt der Experte. „Doch ein ESC-Song braucht Charakter, etwas, was ihn unterscheidet.“ Mit dem jetzigen System sieht er eine Chance, dass es ein Charaktersong schaffen könnte, etwa sein Favorit, die Brachial-Rock-Nummer „Blood And Glitter“ von Lord Of The Lost. Sorge macht ihm nur das Online-Voting. Das schaffe einen Wettbewerbsvorteil für etablierte Musiker. Denn Fan kommt von fanatisch, und manche Fans schrecken vor nichts zurück – auch nicht davor, ein Voting-System auszutricksen.

Tanzt wie Britney Spears: TRONG startet beim deutschen ESC-Vorentscheid

Neu ist, dass die Reihenfolge der Auftritte nicht vom Zufall bestimmt wird, sondern einer Dramaturgie folgt – damit nicht etwa zwei Balladen hintereinander 30 Prozent der Zuschauer einnicken lassen. Los geht es mit dem gebürtigen Vietnamesen TRONG, dem sein Idol Britney Spears einmal Talent bescheinigte und der die Moves seiner Mentorin einwandfrei beherrscht.

Mit Sänger TRONG startet der ESC-Abend. Er tanzt so schön wie sein Idol Britney Spears.
Mit Sänger TRONG startet der ESC-Abend. Er tanzt so schön wie sein Idol Britney Spears. © dpa | Rolf Vennenbernd

Sein Discopop-Titel „Dare To Be Different“ wirkt ein bisschen anbiedernd an die LGBTQ-Community, ohne musikalisch oder inhaltlich etwas Neues zu bieten, was über das „Express Yourself/Born This Way/I Am What I Am“-Thema hinausgeht.

Immer noch besser als René Miller (28), einer dieser Zwei-Wohnsitze-Künstler (Berlin und London), der sein Handwerk mit Gitarre am Lagerfeuer lernte und seine Empfindsamkeit stolz vor sich herträgt wie seinen Erstgeborenen.

René Miller singt sich den Schmerz von der Seele und spart so den Gang zur Therapeutin.
René Miller singt sich den Schmerz von der Seele und spart so den Gang zur Therapeutin. © dpa | Rolf Vennenbernd

Musik ist für ihn „wie eine Therapiestunde, aus der man gestärkt hervorgeht“. Seine Ballade „Concrete Heart“ ist eher eine Therapiestunde, bei der die Therapeutin einen wecken muss.

ESC Vorentscheid: Anica Russo als spirituelle Nachtblume

Das Wecken übernimmt dann aber Pop-Grazie Anica Russo, Berlinerin kroatisch-italienischer Herkunft, mit ihrer wilden Mischung aus Walzer, Powerpop und Kirchenmusik. Ein bisschen Sia, ein bisschen Lorde, ein bisschen Kate Bush – in ihrem Clip zu „Once Upon A Dream“ präsentiert sie sich zeitgeistig als spirituelle Nachtblume.

Mythisches, grazienartiges Nachtgewächs: Anica Russo.
Mythisches, grazienartiges Nachtgewächs: Anica Russo. © dpa | Rolf Vennenbernd

Die Band Lonely Spring aus Passau will dann den Discostadion-Emo-Punk-Pop der Nullerjahre wiederaufleben lassen. Keine Ahnung, was sie damit meinen. „Misfit“ klingt jedenfalls wie ein Song, den Avril Lavigne 2004 von ihrem Album geschmissen hätte – und was werden die Ukrainer von plakativem Wohlstandgejammer wie „Life sucks“ halten?

Es wird nicht besser, Will Church wirkt wie einer dieser Jungs, bei denen sich die Schulschönheit ausheult, ehe sie dann mit dem Sportstar davonschwirrt. Seine Ballade „Hold On“ will wohl auf den Ed-Sheeran-Zug aufspringen.

Folkpop bei ESC-Vorentscheid: Holt Patty Gurdy den Sieg?

Doch dann zeigt es Patty Gurdy den Heulsusen-Jungs. Die Flut im Ahrtal spülte ihr Zuhause weg. Und was macht sie? Sie zieht sich einen sexy Fummel an, schnappt sich ein Mittelalterinstrument namens Drehleier, schmettert die Folkpop-Hymne „Melodies of Hope“ und tanzt, der Rest ergibt sich.

Schließlich kommt Ikke Hüftgold, auf Mallorca-Partys ein Star. Der bierselige Ballermann ist natürlich das Gegenteil vom queeren, woken ESC-Prosecco-Glamour. Doch bedeutet das nicht erst wahre Vielfalt? Tritt er mit „Lied mit gutem Text“ in Liverpool an, könnte das entsetzlich nach hinten losgehen – oder es gibt anerkennend Punkte wegen völliger Beklopptheit wie damals bei Guildo Horn. Der Text ist nicht von Goethe, aber immerhin auf Deutsch.

ESC-Vorentscheid: Vom Ballerman-Star bis zur anspruchsvollen Hymne

Die Sprache und das Gold im Namen sind die einzigen Gemeinsamkeiten mit der nachfolgenden Bochumer Band Frida Gold und ihrer anspruchsvollen Female-Empowerment-Hymne „Alle Frauen in mir sind müde“. Einen deutschsprachigen Beitrag beim ESC gab es zuletzt 2007.

Zum Schluss fahren die bereits erfolgreichen Glamrocker Lord Of The Lost auf. „Blood And Glitter“ klingt wie der erfolgreichste deutsche Musikact im Ausland: Rammstein – nur ohne Schleim, Sadomaso und Kannibalismus. Der Song ist tatsächlich erfolgversprechend. Diese Letzten werden wohl die Ersten sein.