Berlin. Die Speicher sind voll, die Preise niedrig. Doch für Entwarnung ist es zu früh: Die Versorgung im nächsten Winter ist nicht garantiert.

Vor dem Bundeswirtschaftsministerium hängt in diesen Tagen ein Plakat, dessen Aufschrift man wohl als Durchhalteparole bezeichnen kann: „Liebe 80 Millionen“, heißt es da, adressiert an die Menschen in Deutschland, „Energie sparen könnt ihr nicht mehr hören? Danke, dass ihr trotzdem weitermacht!“

Man befürchtet im Haus von Robert Habeck wohl, dass die Sparappelle an die Bevölkerung zunehmend weniger gehört werden. Der Winter 2022/23 neigt sich dem Ende zu, und der große Crash ist ausgeblieben. Die Gasspeicher sind deutlich voller als noch vor wenigen Monaten gedacht, die Preise sind längst weit von den Spitzenwerten aus dem vergangenen Sommer entfernt. Im Großhandel an der niederländischen Gasbörse TTF lag der Preis für eine Megawattstunde Gas zuletzt unter 50 Euro, so niedrig wie seit August 2021 nicht mehr. Ist die Energiekrise also vorbei? Und wie wird es im kommenden Winter aussehen?

Gasmangellage in diesem Winter „unwahrscheinlich“, sagt die Bundesnetzagentur

Dass es in diesem Winter noch zu einer Gasmangellage kommt, ist „unwahrscheinlich“, so die Einschätzung der Bundesnetzagentur. Doch bei der Behörde in Bonn blicken sie längst auf Winter 2023/24. Und für den gibt es keine Entwarnung, sagt Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur. Dass es dann zu einer Mangellage kommt, „können wir nicht ausschließen“, sagte Müller am Wochenende dem Deutschlandfunk.

Ähnlich klingt das beim Wirtschaftsministerium: Die Vorbereitung auf den Winter 2023/2024 sei „eine zentrale Herausforderung“, heißt es da auf Anfrage. „Nach Auffassung der Bundesregierung werden weitere Gaseinsparungen erforderlich sein.“

Es ist eine Einschätzung, die Experten teilen. „Es ist weiterhin entscheidend, Erdgas zu sparen“, sagt Simon Müller, Direktor der Denkfabrik Agora Energiewende. Er erinnert daran, dass in Deutschland im vergangenen Jahr bis zum Sommer noch Gas per Pipeline aus Russland ankam und in das Netz und die Speicher floss; erst im September stoppten die Lieferungen. 2023 aber ist Deutschland von Anfang auf andere Quellen für Gas angewiesen – und steht dabei zum Teil in globaler Konkurrenz.

Chinas LNG-Bedarf könnte zum Preistreiber werden

Denn der Hunger nach Flüssiggas ist nicht nur in Deutschland und Europa groß. „Im vergangenen Jahr wurde viel LNG aus China nach Europa umgeleitet, weil die Corona-Beschränkungen die chinesische Wirtschaft gebremst haben“, erklärt Müller. „Das waren LNG-Mengen in dem Umfang, wie wir sie zusätzlich aus den USA bekommen haben.“ Doch mit dem Ende der harten chinesischen Corona-Politik springt die Wirtschaft dort inzwischen wieder an. „Wenn dort die Nachfrage steigt, können hier die Preise schnell wieder hochgehen“, sagt Müller. „Wir müssen also weiter Energiesparen, damit wir uns gegen starke Preisausschläge schützen können. Je voller die Speicher sind, desto besser kommen wir über den nächsten Winter.“

Dass die Speicherstände derzeit bei über 70 Prozent liegen – und damit 30 Prozentpunkte über dem Mindest-Füllstand, den das Gasspeichergesetz zum 1. Februar vorgibt – liegt laut dem Agora-Chef auch daran, dass Europa in der Krise gut kooperiert hat. „Der europäische Binnenmarkt hat sich als sehr resilient erwiesen“, sagt er. „Die wechselseitige europäische Hilfestellung hat hervorragend funktioniert, sowohl bei Strom als auch bei Erdgas.“ Das müsse nun beibehalten werden.

Vorsichtig optimistisch zeigt sich Müller auch, was die Entwicklung des Strommix’ in diesem Jahr angeht. 2022 seien mit weniger Wasserkraft wegen der heftigen Dürre, den Ausfällen der französischen Akw und der Gasknappheit viele negative Faktoren zusammenkommen. „In der Folge haben wir mehr Kohle verbrannt.“ Das könnte aber ein einmaliger Effekt bleiben, hofft er: „Wenn die Bedingungen in diesem Jahr günstiger sind, geht die Kohleverstromung wieder zurück.“ Davon würde auch die deutsche Klimabilanz profitieren.

Gaspreise: Verbraucherzentralen fordern Prüfung durch Kartellamt

Für Verbraucher bedeutetet diese Gemengelage: Weiter sparen, trotz derzeitiger Entspannung und Gaspreisbremse. „Wenn weiter Energie gespart wird, zahlt das auf einen niedrigeren Gaspreis ein“, sagt Thomas Engelke, Energieexperte beim Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV).

Aus Sicht der Verbraucherschützer ist es wichtig, dass diese niedrigeren Preise dann auch bei Endkundinnen und -kunden ankommen. „Das sehen wir bei den bestehenden Verträgen aber nicht“, sagt Engelke. „Da haben viele Versorger die Preise zum Jahreswechsel nochmal erhöht.“ Begründet werde das mit der zeitversetzten Weitergabe der hohen Preise an der Börse im vergangenen Jahr, sagt er. „ Das ist vermutlich auch ein Stück weit richtig. Aber das Kartellamt muss prüfen, ob es darüber hinaus Mitnahmeeffekte gibt und wenn es welche gibt, diese abstellen.“

Profitieren können Kundinnen und Kunden von den sinkenden Gaspreisen unter Umständen, wenn sie den Anbieter wechseln. „Die Neuverträge sind aktuell wieder günstiger als die Verträge in der Grundversorgung“, sagt VZBV-Experte Engelke. Es könne sich deshalb lohnen zu wechseln. „Aber ich würde dazu raten, genau hinzuschauen, und im Zweifel lieber nur für ein Jahr abzuschließen.“ Mittel- und langfristig, sagt er, müsse ohnehin die Wärmewende in Gang kommen. Derzeit würden noch rund 80 Prozent der Haushalte fossil heizen. „Davon müssen wir weg.“

Bis es soweit ist, werden aber wohl noch eine Weile lang Durchhalteparolen zu hören sein.