Ankara. Der türkische Präsident macht die Bewältigung der Katastrophe zur Chefsache. Warum ihm das bei der Wahl zum Verhängnis werden könnte.

Es sollte ein Jahr des Triumphes werden. 2023 feiert die Türkei nicht nur den 100. Jahrestag der Staatsgründung. Präsident Recep Tayyip Erdogan hoffte auch, seine politische Karriere mit einem weiteren Sieg bei den Wahlen im Mai zu krönen. Aber jetzt wird das Jubiläumsjahr von einer der schwersten Katastrophen in der jüngeren Geschichte des Landes überschattet. Das Desaster könnte auch Folgen für Erdogan haben.

Es ist der sprichwörtliche Wettlauf mit der Zeit: Fieberhaft suchen die Rettungsmannschaften in der Südosttürkei unter den Trümmern nach Überlebenden. Immer wieder erschüttern Nachbeben die Region. Die Kälte schmälert die Überlebenschancen der Verschütteten. Fachleute rechnen damit, dass die Katastrophe weit über 10.000 Opfer gefordert hat.

Erdbeben in der Türkei: Erdogan nimmt internationale Hilfe an

Die Schockwellen der schweren Erdstöße vom Montagmorgen waren sogar im 500 Kilometer Luftlinie entfernten Ankara zu spüren – auch im übertragenen Sinn. Für Staatschef Erdogan ist die Katastrophe eine der größten Herausforderungen seiner fast 20-jährigen Ära an der Spitze der Türkei. Erdogan selbst spricht von der schwersten Naturkatastrophe seit dem Erdbeben von Erzincan, das 1939 über 33.000 Todesopfer forderte. Er rechnet also offenbar damit, dass die Opferzahlen des schweren Erdbebens in der Westtürkei, bei dem 1999 etwa 17.000 Menschen starben, diesmal sogar noch übertroffen werden.

Gerd Höhler
Gerd Höhler © Netzhaut | Dirk Hoppe

Das damalige Erdbeben war für die Türkei das schwerste Desaster der Nachkriegszeit. Und es leitete eine politische Zeitenwende ein. Das chaotische Katastrophenmanagement, die offensichtliche Inkompetenz vieler Politiker und Behörden sowie das krasse Versagen der Armee, die damals noch als vertrauenswürdige Institution galt, brachten die Regierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit in Misskredit. Spendengelder aus dem Ausland wurden veruntreut. Die Finanzkrise von 2001 besiegelte das Ende der Dreiparteienkoalition und ebnete bei den Wahlen im November 2002 den Weg für den ersten Sieg von Erdogans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP).

1999 lehnte die Regierung Blutspenden aus dem Ausland als „unrein“ ab

Muss der Staatschef jetzt fürchten, dass ihm die Katastrophe bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen am 14. Mai zum Verhängnis wird? Das wird vor allem davon abhängen, wie die staatlichen Stellen mit dem Desaster umgehen. Anders als seinerzeit Ecevit, versucht Erdogan nicht, das Ausmaß der Katastrophe kleinzureden und die Opferzahlen zu vertuschen. Er nimmt ausländische Hilfe an, während 1999 nationalistische Hardliner in der damaligen Regierung sogar Blutspenden aus dem Ausland als „unrein“ zurückwiesen.

Zu den Lehren, die in der Ära Erdogan aus dem Beben von 1999 gezogen wurden, gehörte der Aufbau der Katastrophenschutzorganisation AFAD. Sie wurde unter anderem aus „Erdbebensteuer“ finanziert. Sie scheint in den ersten Stunden nach dem Beben gute Arbeit zu leisten.

Erdogan macht die Bewältigung der Katastrophe zur Chefsache

Gemessen wird die Regierung wohl vor allem daran, wie sie jene Menschen versorgt, die bei der Bebenserie ihre Wohnungen verloren haben. Es gilt innerhalb kürzester Zeit für Hunderttausende Menschen Unterkünfte, Essen und sanitäre Anlagen bereitzustellen – eine gewaltige Herausforderung.

Erdogan hat schon in den ersten Stunden nach dem Beben deutlich gemacht, dass er die Bewältigung der Katastrophe zur Chefsache macht. Die Aufgabe ist riesig, denn das betroffene Gebiet ist diesmal viel größer als 1999. Aber wenn der Staat diesmal nicht versagt, könnte die Katastrophe zu einer Welle der Solidarität führen, von der Erdogan und die AKP bei den Wahlen profitieren.

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