Berlin. Die Zahl der Opfer der Erdbeben-Katastrophe in Syrien und der Türkei steigt weiter. Aus diesen Gründen ist die Region so verletzlich.

Mehr als 5000 Todesopfer hat die Serie von Erdbeben, die am frühen Montag die Türkei und Syrien erschütterte, Stand Dienstagmorgen, zur Folge. Tausende Verletzte und noch viel mehr Obdachlose sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die erste Erschütterung erreichte eine 7,8 auf der Richterskala. Neun Stunden später folgte ein weiteres Beben der Intensität 7,5, gefolgt von rund 200 Nachbeben. Tausende von Helfern suchen in den Trümmern eingestürzter Wohnhäuser nach Verschütteten. Doch warum traf es die türkisch-syrische Grenzregion derart schwer? Einer der Gründe ist der Bürgerkrieg, der in Syrien seit 2011 wütet.

Plattentektonik: Türkei ist ein Hochrisikozone für Erdbeben

Große Gebiete der Türkei sind eine Hochrisikozone für Erdbeben. Grund dafür sind die seismischen Aktivitäten rund um die Anatolische Kontinentalplatte, die zwischen der arabischen, der afrikanischen und der eurasischen Platte eingeklemmt ist. Die Anatolische Platte wird von der Arabischen Platte jährlich um rund zwei Zentimeter nach Westen verschoben. Entlang zweier Bruchlinien, der nordanatolischen sowie der ostanatolischen Verwerfung, zerren gewaltige Kräfte an der Erdkruste und setzen sie in Bewegung.

Geophysikerin Charlotte Krawczyk vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam erklärt im "Tagesschau"-Interview, wie es zu derartigen Erdbeben kommt: "Wenn ein Teil dieser Bewegung nicht direkt in Bewegung umgesetzt und abgebaut wird, sondern sich die Platten etwa verhaken und dadurch Spannung aufgebaut wird."

Geschichte voller Beben: Über 66.000 Todesopfer in 100 Jahren

Neben Japan und dem US-Bundesstaat Kalifornien gehört das Gebiet rund um die Anatolische Platte zu den seismisch aktivsten Regionen der Erde. Allein im 20. Jahrhundert forderten 111 Erdbeben der Stärke 5,0 oder mehr geschätzte 66.000 Todesopfer. Die letzte große Erschütterung ereignete sich im Jahr 1999, als sich eine Spannung zwischen Eurasischer und Anatolischer Platte in der Nähe der Millionenmetropole Istanbul in einem Erdbeben der Stärke 7,6 äußerte. Mehr als 18.000 Todesopfer hatte die Katastrophe damals zur Folge, rund eine Viertel Million Menschen verloren ihr Zuhause.

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Viele Opfer wären beim damaligen Beben zu verhindern gewesen, wie eine Expertenkommission analysierte. Seismologen zufolge war in der Gegend um das Marmarameer jederzeit mit Erdstößen verheerender Dimensionen zu rechnen, Statiker attestierten vielerorts Baupfusch oder monierten laxe Bauvorschriften. In der Konsequenz verabschiedete die türkische Politik Reformen im Baurecht, um Gebäude erdstoßsicher zu machen, und eine Neuaufstellung des Katastrophenschutzes seitens der Behörden.

Beben von 1999 führte in der Türkei zu weitreichenden Reformen

Die Todesursache der meisten Opfer von Erdbeben sind herabstürzende Gegenstände oder einstürzende Gebäudestrukturen. Wie eine Studie der US-amerikanischen Geologiebehörde ergab, besteht die im Süden der Türkei dominante Bauweise aus unverstärkt gemauerten Flachbauten. Vor allem weil in der Region um Gaziantep viele Gebäude vor der Baurechtsform 2000 datieren, und daher nicht mit modernen Stahlbetonrahmen gesichert sind, hatte die Erdbeben-Serie besonders große Schäden zur Folge.

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Als noch schlimmer erweist sich die Situation in Syrien. Seit 2011 vom Bürgerkrieg gebeutelt, fehlt es hier an allem. Bauvorschriften können kaum umgesetzt werden, vielerorts wurden vom Krieg beschädigte Gebäude notdürftig wieder instand gesetzt, wie "Nature" berichtet. Erschwerend kommt hinzu, dass in den am schlimmsten betroffenen Gebieten der syrische Staat nur wenig Kontrolle über die Situation hat. Zudem befinden sich im betroffenen Gebiet zahlreiche Binnenflüchtlinge des Bürgerkriegs.

Syrien droht nach dem Beben die nächste humanitäre Katastrophe

Wie Unicef-Sprecher Rudi Tarneden erklärt, erfolgt die Versorgung von Aleppo, Idlib und dem Rest der betroffenen Region über das türkische Gaziantep. "Das ist die Rettungsleine, die die Region am Leben hält". Ob und wie schnell aber die benötigte humanitäre Unterstützung im Nordwesten Syriens ankommt, könne er aufgrund des chaotischen Lage nicht prognostizieren.

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Tarneden hofft auf möglichst schnelle Hilfslieferungen von Trinkwasser, Lebensmitteln und – angesichts nächtlicher Temperaturen unter dem Gefrierpunkt – warmer Kleidung. Unicef poche auf die Einhaltung des von der UN festgelegten Grenzübergang bei Gaziantep. "Ansonsten droht im Anschluss an das Beben mit einer Cholera-Seuche die nächste humanitäre Katastrophe. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit."