Berlin. Der #aufschrei begann auf Twitter und war schließlich überall. Seitdem wurden Gesetze verschärft. Doch Sexismus blieb, auch in der FDP.

2013 war ein mieses Jahr für die FDP. Aber ein gutes für die Frauen: Es beginnt mit einem Skandal um den liberalen Spitzenkandidaten Rainer Brüderle und führt am Ende zum Rauswurf der Partei aus dem Bundestag. Gleichzeitig startet eine Debatte über Sexismus im Alltag – die bis heute andauert: Unter dem Twitter-Hashtag „#aufschrei“ berichten in der Folge zahllose Frauen im Netz von ihren Erlebnissen mit übergriffigen Männern – und dokumentieren so, wie verbreitet Sexismus in Deutschland ist.

Genau vor zehn Jahren, am 24. Januar 2013, veröffentlichte der „Stern“ einen Text der Journalistin Laura Himmelreich über Brüderle, die Nummer eins der FDP im Bundestagswahlkampf. In dem Text unter dem Titel „Der Herrenwitz“ wirft Himmelreich dem FDP-Mann sexuell übergriffiges Verhalten vor. Am Abend vor dem Dreikönigstreffen der Liberalen ein Jahr zuvor hatte Brüderle im Gespräch mit der Journalistin anzügliche Bemerkungen gemacht, ihre Ablehnung ignoriert, ihr die Hand küsst. Es ist nicht zum ersten Mal, dass Brüderle mit sexistischen Sprüchen auffällt.

#aufschrei: Erst auf Twitter, dann überall – in Medien und Talkshows

„Er gefällt sich als Verkörperung des wandelnden Herrenwitzes. Den Ruf des Unseriösen nimmt er in Kauf, solange die Männer um ihn herum lachen“, schreibt Himmelreich. Zehn Tage zuvor war ein Artikel der Journalistin Annett Meiritz im „Spiegel“ erschienen, es ging um Frauenfeindlichkeit in der Piratenpartei.

Kommentar zu #aufschrei: Die Autorin des „Stern“-Porträts zieht Bilanz

Rainer Brüderle ist Geschichte, die FDP flog im Herbst 2013 aus dem Bundestag. Himmelreich ist heute stellvertretende Chefredakteurin der Zentralredaktion der Funke Mediengruppe, zu der auch dieses Portal gehört.

Die Debatte über Sexismus im Alltag nahm schnell Fahrt auf – auch, weil sie mit Twitter ein Medium fand, das viele junge Frauen nutzten: In der Nacht nach der Veröffentlichung des Stern-Artikels etablierte die Feministin Anne Wizorek bei Twitter das Hashtag „#aufschrei“ – und bündelte so die persönlichen Berichte von Frauen, die zum Teil zum ersten Mal öffentlich über ihre Erfahrungen mit Sexismus sprachen.

Allein in der ersten Woche nutzten 15.000 Nutzerinnen und Nutzer das Hashtag, eines der bis dahin größten Twitter-Ereignisse. Nahezu alle Medien in Deutschland griffen die Debatte auf, in quasi jeder Talk-Show wurde breit über Sexismus diskutiert.

Studie: „Sexismus ist ein Massenphänomen“

Der Kampf gegen Sexismus in der Sprache und im Alltag ist das jüngste Kapitel im alten Ringen um Gleichstellung: Kämpften frühere Frauengenerationen um das Recht zu wählen, das Recht, berufstätig zu sein, das Recht auf Abtreibung, kam später das Ringen um Gleichstellung im Beruf und in Führungspositionen dazu.

Die Journalistinnen und Twitterinnen, die vor zehn Jahren die Debatte über Sexismus anstießen, stammen dagegen überwiegend aus einer Generation, in der der Gedanke der Gleichberechtigung bereits selbstverständlich schien. Diskriminierung in der Schule, in der Ausbildung oder im Beruf erleben viele eher als Ausnahme. Umso mehr empört es sie, respektlos behandelt zu werden, abgewertet, sexistisch attackiert zu werden. Es bleibt keine deutsche Bewegung: Vier Jahre später, 2017, taucht im Zuge des Weinstein-Skandals ein neues Hashtag auf: „#metoo“ wird das Schlagwort für eine nun weltweite Bewegung gegen sexuelle Belästigung.

Bereits 2020 bei einem Prozess in New York unter anderem wegen sexueller Nötigung für schuldig gesprochen: Harvey Weinstein.
Bereits 2020 bei einem Prozess in New York unter anderem wegen sexueller Nötigung für schuldig gesprochen: Harvey Weinstein. © Etienne Laurent/EPAl/AP/dpa

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„Alltäglicher Sexismus ist ein Massenphänomen“, schreiben die Autoren einer großen, repräsentativen Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Grundlage ist eine Erhebung aus den Jahren 2018 und 2019. Demnach erlebten rund 44 Prozent aller Frauen in ihrem Alltag sexistische Übergriffe, 14 Prozent mehrmals im Monat. M

Mit 32 Prozent gab auch ein erheblicher Teil der Männer an, von Sexismus im Alltag betroffen zu sein. Interessant: Je höher die Bildung, umso größer scheint demnach offenbar die Sensibilität für Sexismus zu sein: 71 Prozent der Frauen mit akademischer Bildung, aber nur 53 Prozent der Frauen mit geringem Bildungsabschluss waren selbst von sexistischen Übergriffen betroffen oder beobachten solche in ihrem Umfeld.

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Sexuelle Gewalt: Wie das Strafrecht verschärft wurde

Der Kampf gegen Sexismus und für sexuelle Selbstbestimmung hat mittlerweile auch konkrete Gesetzesfolgen. Zusätzlich verstärkt durch die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 wurde 2016 das Sexualstrafrecht verschärft, Schutzlücken sollten geschlossen werden. Seitdem gilt der Grundsatz „Nein heißt Nein“ auch im Gesetzbuch: Jede sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen einer Person wird unter Strafe gestellt. Neu eingeführt wurde zudem der Straftatbestand der sexuellen Belästigung.

Die Ampel-Koalition will noch weiter gehen: Bei der Strafzumessung sollen künftig als Beweggründe neben rassistischen oder antisemitischen Motiven auch ausdrücklich „geschlechtsspezifische“ sowie „gegen die sexuelle Orientierung“ gerichtete Beweggründe berücksichtigt werden.

FDP: Immer noch eine Männerpartei?

Die FDP wird das Thema unterdessen nicht los: Im Herbst berichtete Silvana Koch-Mehrin in einem Interview über sexuelle Anzüglichkeiten und körperliche Belästigungen durch Parteifreunde aus der FDP. Die Politikerin hatte die Liberalen 2004 als Spitzenkandidatin zurück ins Europäische Parlament geführt, sich später aber aus der Politik zurückgezogen. Die aktuelle FDP-Führung bot Koch-Mehrin „persönlich Unterstützung bei der Aufarbeitung der von ihr angesprochenen Vorgänge an“. In einer Erklärung auf Anfrage unserer Redaktion hieß es: „Die Berichte von Silvana Koch-Mehrin unterstreichen die Notwendigkeit des umfassenden Erneuerungsprozesses, dem sich die FDP ab 2014 unterzogen hat.“

Frauen fühlen sich in der FDP dennoch immer noch nicht besonders zu Hause: Die Partei werde „als eine Männerpartei wahrgenommen“, sagt die Vorsitzende der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann. Um das zu ändern sei mehr nötig als die Quote im Parteivorstand zu erhöhen: „Es geht um die Kultur, um unsere Selbstdarstellung als Partei, um unsere Kommunikation“.