Berlin. Die TV-Doku “Arm trotz Arbeit“ zeigt, welche massiven Langzeiteffekte ungesicherte Beschäftigung auf Gesellschaft und Politik hat.

Patricia aus dem französischen Comines ist Ende 50 und hat kein Problem damit, den Rassemblement National zu wählen. Damit Frankreichs rechtspopulistische Partei "da oben mal richtig durchgreift". Dabei hat Patricia mit Politik eigentlich wenig im Sinn: "Meine Politik ist mein Portemonnaie."

Die "da oben" – begründet sie in der arte-Dokumentation "Arm trotz Arbeit" – wüssten längst nicht mehr, wie ihr Leben "hier unten" aussah: Angestellt bei einer Zeitarbeitsfirma, hangelt sich die Putzfrau von einem befristeten Arbeitsvertrag zum nächsten – ohne zu wissen, wie lange sie ihre Rechnungen noch bezahlen konnte. Ihr Zweitjob als Büglerin reichte dafür auch nicht.

Ein Drittel der Europäer ist prekär beschäftigt

Patricia ist nur eine von vielen, die Katharina Wolff und Valentin Thurn für ihren Film besucht haben. An Beispielen aus Deutschland, Frankreich, Spanien und Schweden zeigt "Arm trotz Arbeit", unter welchen prekären Arbeitsverhältnissen inzwischen ein Drittel der Beschäftigten in Europa leben muss: Sie haben Arbeit, ja – aber nur schlecht bezahlte. Und vor allem keine Festanstellung mehr, die sie bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit absichert, geschweige denn bei der Rente. Vor allem Frauen sind betroffen.

"Wer nicht weiß, wie lange er den Job hat, kann nicht planen", beschreibt die Dortmunder Soziologin Mona Motakef die Folgen ungesicherter Arbeit auf die Einzelnen. Auf Dauer verlor man eine Perspektive, dann den Sinn für das eigene Leben. "Die Hoffnung, dass befristete Arbeitsverträge eine Brückenfunktion in die Festanstellung haben könnten, hat sich nicht erfüllt."

Unsicherheit zermürbt, das wusste schon Konfuzius. Und tatsächlich bestätigen im Film alle prekär Beschäftigten, dass nicht "wenig Geld" das Problem war, sondern nicht zu wissen, wie lange es so noch weiterging. Und wie sie die nächste Krise überleben konnten. Lesen Sie auch: Macron will Rentenreform durchboxen – und riskiert alles

Untere Einkommen stagnieren seit 30 Jahren

Wenig überraschend, die Pandemie hat die "soziale Schere" auch im reichen Europa weiter geöffnet – wer Kapital besaß, wurde – "wie in jeder Krise" – reicher. Wer für seinen Lebensunterhalt arbeitete, ärmer. Das ging schon seit Jahrzehnten so.

"Im unteren Mittelstand stagnieren die Einkommen seit mehr als 30 Jahren", begründet der britische Wirtschaftswissenschaftler Guy Standing, die Langzeit-Auswirkungen einer veränderten Arbeits- und Sozialpolitik: Spätestens seit 2011 liberalisierte ein europäisches Land nach dem anderen seinen Arbeitsmarkt, lockerte Kündigungsschutz und Tarifbindungen.

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Gleichzeitig zogen sich die Staaten immer weiter aus ihrer sozialen Verantwortung zurück – durch einschneidende Sozialreformen, wie sie in Großbritannien Maggie Thatcher (1979-1990 Premierministerin) oder in Deutschland Gerhard Schröder (1998-2005 Kanzler) durchgesetzt hatten. Als 2018 französische "Gelbwesten" erstmals gegen Sozialabbau auf die Straße gingen, tauchten sie wie aus dem Nichts auf: "Die Politik hat diese Leute aus ihrem Sichtfeld verloren."

Im Spätsommer 2020, als der Film entstand, bedrohten zusätzlich steigende Inflation, Lebensmittelpreise und Energiekosten die Geringverdiener, die keinerlei Reserven für zusätzliche Mietkosten mehr hatten. Forsch prognostiziert er in der Dokumentation, dass wir in den "nächsten 12 Monate erleben werden, wie Million Menschen in Europa obdachlos werden." Pech für den Film, Glück für alle – bisher ist sein Horrorszenario noch nicht eingetreten.

Auch in Deutschland protestieren die "Unsichtbaren"

Aber auch in Deutschland schließen sich die "Unsichtbaren" inzwischen zusammen: Unter dem Hastag #ichbinarmutsbetroffen versammeln sich Menschen, die trotz Arbeit kaum über die Runden kommen. Auf Twitter und Facebook tauschen sie ihre Erfahrungen aus. "Es ist angenehmer, mit ihnen Kontakt zu haben, als mit der heilen, anderen Welt", macht die alleinerziehende Vanessa (41) klar, wie die Schere zwischen Haben und Nicht-Haben bis in Alltagserfahrungen hineinreicht.

Unter dem Hashtag organisieren sich auch Straßenproteste. Sie wollten aufmerksam machen, dass Armut trotz Arbeit kein individuelles Versagen, sondern ein strukturelles Problem ist. Und immer mehr Menschen betroffen sind. "Mir ist egal, ob da auch Rechte mitlaufen", erklärt eine andere Armut-Betroffene.

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Sich zu solidarisieren und gemeinsam für soziale Rechte zu kämpfen, fordert auch der Film. "Wie werden wir uns entscheiden?" fragt er am Ende und sieht einen direkten Zusammenhang zwischen zunehmender Armut und Wahlerfolgen der Rechtspopulisten, überall in Europa: "Werden die Menschen für ihre Sozialen Rechte auf die Straße gehen? Oder autoritäre Anführer wählen?" Beides wirkt wenig beruhigend, eher wie eine Drohung.

Die Dokumentation "Arm trotz Arbeit – Die Krise der Mittelschicht" können Sie in der arte-Mediathek ansehen.