Washington. Mal wieder ein Massenmord in den USA, diesmal in einem Supermarkt. Warum lernen die Amerikaner nicht endlich aus ihrer Geschichte?

Es hört nicht auf, das sinnlose Sterben in amerikanischen Schulen, Nachtklubs, Kirchen und Einkaufszentren. Das mächtigste Land der Erde bringt sich buchstäblich Tag für Tag um. 40.000 Schusswaffentote pro Jahr, das ist der erschreckende Standard. Aber auch der Massenmord in einem Supermarkt im Bundesstaat Virginia wird aller Erfahrung nach am „Thanksgiving-Feiertag” am Donnerstag nicht zu einem radikalen Umdenken führen.

Die einzig sinnvolle Richtung wäre: Schusswaffen, Ausdruck eines historisch verqueren Verständnisses von unveräußerlicher Freiheitsliebe, müssen endlich gesetzlich massiv reguliert und eingedämmt werden. Kein anderes Land der Erde fügt sich sehendes Auges konstant solche Wunden zu.

Aber alle Versuche, das Land langfristig aus der Apathie zu reißen und endlich mehr zu tun als nur kosmetische Spiegelstriche an den unter dem Strich fahrlässig laxen Waffengesetzen, waren bisher zum Scheitern verurteilt.

USA: Sie lernen nicht aus der Geschichte

Eine mächtige Minderheit in den USA stellt sich hartnäckig quer. Die Pro-Waffen-Lobby präsentiert sich als finanziell blendend gepolsterte, gut geölte Maschine, die in erster Linie massive wirtschaftliche Interessen vertritt. Viele Politiker lassen sich damit einfangen.

Nicht einmal aus der Geschichte ist man bereit zu lernen. Das von 1994 bis 2004 gültige Verbot von kinderleicht zu bedienenden Schnellfeuergewehren vom Typ AR-15 hatte eindeutig positive Wirkung. Heute würde dazu die notwendige Mehrheit im Kongress nicht mehr zustandekommen. Dass dieselben Leute, die sich einer rationalen Lösung des Waffengewalt-Elends verweigern, entschieden mehr Energie darauf verwenden, Frauen in existenziellen Situationen daran zu hindern, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, macht sprachlos und zornig.

Allein, die aus Waffenproduzenten, Waffen-Fans, der Waffen-Lobby NRA und ihnen gefügigen Volksvertretern bestehende Gruppe kann sich auf (noch mehr) Rückendeckung der wichtigsten Rechts-Instanz berufen. Erst im Sommer stärkte der Supreme Court in Washington mit 6:3-Stimmen das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit erneut als in der Verfassung herausragend installiertes Grundrecht der Bürger.

Eine Person mit mehreren Schusswaffen nimmt an einer Demonstration in Seattle für das Recht, Waffen zu besitzen, teil.
Eine Person mit mehreren Schusswaffen nimmt an einer Demonstration in Seattle für das Recht, Waffen zu besitzen, teil. © dpa

USA: Pistolen zu tragen ist mit weniger Auflagen verbunden als der Kauf von Alkohol

25 von 50 Bundesstaaten erlauben das Tragen von Pistolen auf der Straße ohne jede bürokratische Erlaubnis. Beim Kauf von Alkohol werden Erwachsene jederzeit um die Vorlage ihres Führerscheins gebeten, der das Alter ausweist. In 30 Bundesstaaten gelten zudem „Stand Your Ground”-Gesetze erlassen. Sie erlauben es, gegenüber einem Angreifer, tödliche Gewalt anzuwenden; auch dann, wenn man zurückzuweichen könnte, um die Lage zu entspannen.

All dies wird auf den zweiten Verfassungsartikel zurückgeführt. Ein über 200 Jahre alter Popanz, der schier unbesiegbare und tödliche Kraft entfaltet. In Amerika steht die Freiheit, Waffen tragen zu dürfen, über dem Recht auf Leben. Darum wird der Besuch von Schulen, Kirchen, Kaufhäusern, Tanz-Klubs, kurzum der Aufenthalt im gesamten öffentlichen Raum, immer mehr zu einem russischen Roulette.

Wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, wie es jetzt unter anderem Late-Night-Shoppern bei Walmart in Chesapeake widerfahren ist, die den letzten Truthahn für Thanksgiving erwischen wollten, kommt nicht mehr nach Hause.

Die Waffen-Lobby hält dem dreist ihr Mantra entgegen: „Einen bösen Mann mit einer Waffe stoppt nur ein guter Mann mit einer Waffe.” Was für ein Zynismus. Beim Schulmassaker in Uvalde, Texas standen sich im Mai Dutzende bewaffnete Polizisten mehr als eine Stunde vor dem unversperrten Klassenraum nichtstuend die Beine in den Bauch – während drinnen 19 Kinder und zwei Lehrerinnen starben.

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.