Berlin. Kommt die Einsatzreserve und wenn ja, mit wie vielen Kraftwerken? Die Ampel-Koalition streitet darüber – doch die Zeit wird knapp.

Wie viel Atomkraft braucht Deutschland, um sicher durch die Energiekrise zu steuern? Wenig, sagen die Grünen. Viel, sagt die FDP. Der Streit zwischen den Koalitionspartnern hat sich nach der Niedersachsen-Wahl noch einmal verschärft. Findet die Koalition keine zügige Lösung, könnte der Weiterbetrieb zumindest eines der drei verbliebenen AKW gefährdet sein, warnt das Wirtschaftsministerium.

Was die Lage aktuell noch erschwert: Für beide Ampel-Partner ist der Atomstreit mehr als eine Sachfrage. Es geht um Glaubenssätze und Parteitaktik. Die Grünen wollen lieber heute als morgen aus der Atomkraft aussteigen, sehen jedoch die drohenden Versorgungslücken, halten aber allenfalls einen befristeten Notbetrieb gegenüber ihrer AKW-skeptischen Basis für vertretbar.

Und: Wirtschaftsminister Robert Habeck will beim Grünen-Parteitag am Wochenende Zuspruch einsammeln – und keinen Ärger mit der Basis bekommen. Die FDP dagegen hält die systematische Reaktivierung der Atomkraft für das Gebot der Stunde – und hat sich nach der vierten verlorenen Landtagswahl in Folge vorgenommen, ihre Positionen sichtbarer durchzusetzen. Viel Zeit für eine Lösung bleibt nicht.

Energiekrise: Was plant Wirtschaftsminister Habeck?

Wegen der Energiekrise will Habeck zwei Atomkraftwerke für den Fall von Engpässen in der Stromversorgung bis ins Frühjahr einsatzbereit halten. Der Grüne hatte vorgeschlagen, die Nutzung der Atomkraftwerke Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg bis maximal zum 15. April 2023 zu ermöglichen. Dazu müssen das Atom- und das Energiewirtschaftsgesetz geändert werden, um die „Einsatzreserve“ rechtlich abzusichern. Nach jetziger Rechtslage gehen zum Jahresende alle drei noch laufenden deutschen Atomkraftwerke – das dritte ist das AKW Emsland in Niedersachsen – vom Netz.

Der FDP reicht das nicht, der kleinste Koalitionspartner verweigert Habeck die Zustimmung: Schon am vergangenen Mittwoch hatte sich das Bundeskabinett entgegen Habecks Planungen nicht mit einem Entwurf seines Ressorts zum möglichen Weiterbetrieb der zwei süddeutschen Atomkraftwerke befasst. Am Montag wurde ein weiterer Termin gerissen.

Weiterbetrieb der Atomkraftwerke: Was will die FDP?

Die FDP dringt auf einen Weiterbetrieb aller drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke bis ins Jahr 2024 – und will dafür auch zusätzliche, neue Brennstäbe einsetzen. Parteichef und Finanzminister Christian Lindner bekräftigte dies am Montag nochmal. Das Argument: In der Energiekrise sei es nötig, alle verfügbaren Kapazitäten an sicheren und klimaneutralen Kernkraftwerken zu nutzen. „Das ist schlicht eine Frage der Vernunft in der aktuellen Energiekrise“, betonte Johannes Vogel, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, am Dienstag. Für Parteichef Lindner ist das „nicht Politik, sondern Physik“.

Ginge es nach der FDP würden zudem die Wiederinbetriebnahme bereits abgeschalteter Meiler geprüft. Aus Kreisen des FDP-geführten Finanzministeriums hieß es, innerhalb der Bundesregierung solle jetzt geklärt werden, „ob zwei der drei Ende 2021 vom Netz gegangenen Kernkraftwerke, die baulich noch reaktivierbar sind, wieder für die Stromversorgung eingesetzt werden können, wenn die Lage es erfordert“.

Eine Forderung, die auch von Wirtschaftsexperten wie der Ökonomin Veronika Grimm geteilt wird: Deutschland solle bis auf weiteres alle Atomkraftwerke nutzen, „die noch laufen oder sich reaktivieren lassen“, sagte Grimm dieser Redaktion. Das lehnen die Grünen genauso kategorisch ab wie längere Laufzeiten für die verbliebenden Kraftwerke. „Am 15. April 2023 ist endgültig Schluss“, sagt Umweltministerin Steffi Lemke.

Atomkraft: Was bedeutet der Streit für die Stromversorgung im Winter?

„Die Zeit drängt“, sagte Habeck dem „Spiegel“. „Wenn man will, dass die Atomkraftwerke nach dem 31. Dezember noch Strom produzieren können, muss man jetzt den Weg dafür frei machen.“ Der Koalitionsstreit über die Atomkraft könnte nach Darstellung seines Ministeriums zu einem Problem für einen Weiterbetrieb des bayerischen Meilers Isar 2 im kommenden Jahr führen.

Es habe eine „klare Verständigung mit den Koalitionspartnern“ gegeben, „trotz unterschiedlicher Perspektiven“ den Gesetzentwurf zur Einsatzreserve zweier Atomkraftwerke am Montag durchs Kabinett zu bringen. „Aufgrund politischer Unstimmigkeiten wurde aber von dieser Verständigung abgerückt.“ Damit sei der enge Zeitplan für das Verfahren nicht zu halten, worüber die Betreiber am Montag informiert worden seien.

„Diese Verzögerung ist ein Problem, wenn man will, dass Isar 2 im Jahr 2023 noch Strom produziert“, erklärte das Ministerium weiter. „Es müssen zeitnah die Reparaturen am Atomkraftwerk vorgenommen werden, die Atomkraftwerksbetreiber brauchen Klarheit.“ Das Wirtschaftsministerium setze sich weiter für Lösungen ein, „sonst steht man wegen Verzögerungen ohne Isar 2 da“. In dem Atomkraftwerk war ein Ventil-Leck entdeckt worden. Es müsste voraussichtlich spätestens im Oktober repariert werden, weil der Reaktorkern danach nicht mehr genug Reaktivität hätte, um das AKW noch einmal mit den vorhandenen Brennelementen hochfahren zu können.

Emsland: Welche Rolle spielt das dritte Kraftwerk?

Wenn es nach Habeck und den Grünen geht: Keine. Denn dass die Einsatzreserve notwendig ist, begründet der Wirtschaftsminister nicht mit der benötigten Strommenge, sondern mit der Netzstabilität. Die könnte in Süddeutschland wackeln, wenn im Winter mehrere Stressfaktoren unglücklich zusammenkommen. Ein weiteres AKW in Niedersachsen wäre da allerdings keine Hilfe, argumentiert das Wirtschaftsministerium. Betreiber RWE hielt sich am Dienstag bedeckt. „Wir warten die politische Entscheidung ab“, hieß es auf Anfrage.

Wie geht es jetzt weiter?

„Man kann nicht längere Laufzeiten wollen und gleichzeitig verhindern, dass die Atomkraftwerke laufen können“, sagte Habeck mit Blick auf die FDP. Genau das aber passiere gerade. „Es ist schlicht eine Frage der Technik, nicht der Politik.“

Die FDP sieht dagegen keinen unmittelbaren Zeitdruck: Der Zeitplan für einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke sei nicht gefährdet, heißt es aus der Fraktion. Komme es zu einer Einigung, könnten die Koalitionsfraktionen in der kommenden Woche die nötigen Beschlüsse fassen. Wie dieses Einigung aussehen könnte – das ist bislang offen.

Die Liberalen machten am Dienstag klar, dass sie von Habeck ein deutliches Entgegenkommen erwarten. Längere Laufzeiten über den 15. April hinaus, drei statt nur zwei AKW in der Einsatzreserve – so oder so ähnlich könnte aus liberaler Sicht eine Kompromisslinie aussehen.

Bei den Betreibern von Isar 2 jedenfalls stellt man sich darauf ein, dass der Reservebetrieb kommen wird: „Wir gehen nach wie vor davon aus, dass es im Kabinett zeitnah eine Einigung über den Gesetzentwurf zum Weiterbetrieb der Kernkraftwerke geben wird“, sagte Eon, Mutterkonzern des Isar 2-Betreibers Preussen Elektra, dieser Redaktion.