Berlin/Brüssel. In einigen EU-Ländern gibt es einen automatischen Lohnausgleich bei hoher Inflation. Kommt das auch in Deutschland? Was Experten sagen.

Es ist eine bittere Erfahrung für viele Arbeitnehmer: Die Preise steigen und steigen, die Löhne aber legen viel langsamer zu. Die Beschäftigten in Deutschland mussten deshalb im ersten Halbjahr einen Reallohnverlust von 3,6 Prozent hinnehmen, wie die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung errechnet hat. Die Tarifgehälter auf Basis älterer und aktueller Abschlüsse erhöhten sich bis Ende Juni um durchschnittlich 2,9 Prozent, was die Inflation bei weitem nicht ausgleichen konnte – aktuell liegt die Teuerungsrate bei 7,9 Prozent.

Das Statistische Bundesamt gibt den Verdienstrückgang für das zweite Quartal sogar mit 4,4 Prozent an. Da kann ein Blick über die Grenzen neidisch machen: In Belgien und anderen EU-Staaten werden Löhne und Gehälter automatisch mit der Inflation angehoben.

In Belgien, das 2022 eine Inflationsrate von 9,4 Prozent erwartet, dürften die Bezüge zum Jahresende um fast neun Prozent erhöht werden. So sieht es die sogenannte Indexierung vor. Stellt der belgische Staat fest, dass die Inflation in einem Monat um mindestens zwei Prozent gestiegen ist, werden zunächst im öffentlichen Dienst im folgenden Monat die Gehälter um zwei Prozent erhöht, Renten und Sozialleistungen ebenso.

Die private Wirtschaft muss, mit komplizierten Detailregelungen, später nachziehen. Aus dem Index werden allerdings Benzin, Alkohol und Tabak herausgerechnet. Ähnliche Regelungen gibt es auch in Luxemburg, Zypern und Malta. Kehrseite: In Belgien sind zusätzlichen Tariferhöhungen gewisse Grenzen gesetzt.

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Automatischer Lohnausgleich bei Inflation: Das sagen Gewerkschaften und Arbeitgeber

Ein Modell für Deutschland? Was sagen Tarifpartner, Wissenschaftler und Politiker? Der Arbeitgeberverband BDA lehnt die Lohnindexierung ab, nennt sie ein „Schönwetter-Instrument“.

BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter sagte unserer Redaktion, sozialpartnerschaftliche Verhandlungen seien in der Regel besser für die Menschen als statische Formeln – in Zeiten wirtschaftlichen Erfolges ebenso wie bei Krisen durch Covid oder Inflation. „Sozialpartner übernehmen Verantwortung für die wirtschaftlichen Folgen ihres Handelns und laden sie nicht beim Statistischen Bundesamt ab. Das gilt auch für die Vermeidung einer Lohn-Preis-Spirale“, sagte Kampeter.

Die Zentrale der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt/Main. Der EZB ist es bisher nicht gelungen, die starke Inflation in Deutschland und der gesamten EU einzudämmen, wie es die Aufgabe der Währungshüter ist.
Die Zentrale der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt/Main. Der EZB ist es bisher nicht gelungen, die starke Inflation in Deutschland und der gesamten EU einzudämmen, wie es die Aufgabe der Währungshüter ist. © dpa | Boris Roessler

Auch die Gewerkschaften winken ab: „Die Sozial- und Tarifpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ist eine Erfolgsgeschichte und prägendes Element unserer Wirtschaft. Wir benötigen keinen Automatismus bei der Lohnfindung“, sagt DGB-Vorstand Stefan Körzell. Denn außer der allgemeinen Preisentwicklung bestimmten auch die Produktivität und andere Faktoren darüber, welcher Lohn gerecht ist. Allerdings seien die hohen Inflationsraten eine enorme Herausforderung.

DGB: Ausnahme-Inflation nicht allein über Löhne zu bewältigen

Diese Grafik zeigt die Entwicklung der Lebensmittelpreise in Deutschland seit 2019.
Diese Grafik zeigt die Entwicklung der Lebensmittelpreise in Deutschland seit 2019. © dpa | dpa-infografik GmbH

Auch wenn die aktuellen Tarifrunden die mittelfristige Inflationserwartung berücksichtige, lasse sich die Ausnahmesituation nicht allein über die Löhne bewältigen. Reale Einkommensverluste müssten auch durch staatliche Entlastungen aufgefangen werden.

Wirtschaftsprofessorin Kerstin Bernoth vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) meint: „Ein Automatismus hat viele Nachteile, da das System sehr starr ist.“ Ursache und Dauer der Inflation würden nicht berücksichtigt, obwohl sie zur Beurteilung auch des mittelfristigen Preisdrucks wichtig seien. Bei Lohnanpassungen werde mehr Flexibilität benötigt, daher sei das derzeitige System besser.

Bartsch: Lohnniveau muss Schritt halte mit den Gewinnen der Unternehmen

Auch unter Politikern in Deutschland hat die Indexierung keine große Sympathie. Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch: „Eine Kopplung der Löhne an die Inflation kann in einer Inflationskrise ein Segen für Beschäftigte sein. Aber in ‘normalen’ Jahren ein dicker Nachteil.“

Wichtig sei, dass das Lohnniveau insgesamt Schritt halte mit den Gewinnen der Unternehmen. Bartsch: „Die Ampel-Regierung sollte die Inflationslawine von drei Seiten attackieren: höhere Löhne und Renten, niedrigere Kosten – gerade für Energie durch Preisdeckel – und ausreichend hohe Direktzahlungen bis in die Mitte der Gesellschaft.“

Der Vizechef des CDU-Arbeitnehmerflügels und Europaabgeordnete Dennis Radtke hält die automatische Anpassung an die Inflation „für keinen klugen Weg“. Die Tarifpartner müssten Möglichkeiten zur Gestaltung haben. „Sozialpartner sind immer näher am Geschehen in den Betrieben als die Politik.“

Der Sprecher der deutschen Sozialdemokraten im EU-Parlament, Jens Geier, warnt, eine automatische Lohnanpassung würde auch Krisengewinnern zugute kommen, die derzeit ohnehin besser verdienten. Zielgerichtete Maßnahmen könnten hilfreicher sein. „Es müssen vor allem diejenigen entlastet werden, die es am härtesten trifft.“ Da sieht Geier die EU-Kommission und Mitgliedstaaten in der Pflicht.

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Sonder-Gehaltsanhebung für EU-Beamte: Kritik von Mitgliedsstaaten

In Belgien fordern Arbeitgeberverbände inzwischen, die Indexierung auszusetzen – mit einer zehnprozentigen Lohnerhöhung werde die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale angefeuert und die Wirtschaft gegen die Wand gefahren. Doch politisch ist das kaum durchsetzbar: Wer an dem Gesetz rüttele, der riskiere einen „Krieg“, droht Gewerkschaftsboss William Van Erdeghem.

Für Debatten sorgt die Lohnangleichung auch in den Regierungen anderer EU-Staaten, weil auch die ohnehin gutverdienenden EU-Beamten und Kommissare in Brüssel und Luxemburg vom Ausgleich profitieren: Sie konnten sich schon im Juni über eine erste Sonder-Anhebung ihrer Bezüge um 2,4 Prozent freuen, rückwirkend ab Januar. Die Mehrkosten belasten den EU-Haushalt erheblich, weshalb Haushaltsexperten im EU-Rat fordern, den Inflationsausgleich auszusetzen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.