Essen. Welche Chancen eröffnet die molekulare Testung von Tumoren Krebs-Patienten? Prof. Martin Schuler im Interview vor einer FUNKE-Info-Veranstaltung.

Eine maßgeschneiderte, jedem Krebspatienten individuell angepasste Behandlung ist das Ziel der Präzisionsonkologie. Doch wie genau funktioniert das? Wir sprachen auch über Chancen und Grenzen der neuen Methoden mit einem international renommierten Experten auf diesem noch jungen Gebiet der Medizin: Prof. Martin Schuler. Er ist Direktor der Inneren Klinik (Tumorforschung) am Westdeutschen Tumorzentrum der Essener Universitätsklinik, einem der wenigen präzisionsonkologischen Spitzenzentren in Deutschland.

Mensch ist nicht gleich Mensch. Und Krebs ist nicht gleich Krebs. Je personalisierter, zielgerichteter ein Tumor also bekämpft wird, desto größer der Erfolg und desto geringer die Nebenwirkungen – das ist Ansatz der Präzisionsonkologie. Wie neu ist diese Erkenntnis?

Schuler: Sie ist überhaupt nicht neu. Die räumliche Präzision in der Krebsmedizin ist sogar sehr alt: Chirurgen entfernen seit jeher nur das, was entfernt werden muss. Das gilt genauso für die Strahlentherapie oder für die bildgestützte Navigation von Sonden oder Kathetern, hin zum Ort, den man behandeln will. Neu ist, dieses Prinzip auch auf medikamentöse Verfahren zu beziehen, biologische Präzision also. Tabletten oder Infusionen wirken grundsätzlich überall im Körper und nicht nur auf den Krebs. In Tumorproben von manchen Patienten finden heute sich spezifische Merkmale, ein fehlgesteuertes Eiweiß in der Krebszelle meist, das für das Wachstum des Tumors besonders wichtig ist. Dieses Merkmal kann Ansatzpunkt für zielgerichtete Medikamente sein. Diese ziehen dem Tumor sprichwörtlich den Stecker, dann geht sozusagen das Licht aus und die Tumorzelle stirbt.

Beginnt damit ein neues Zeitalter in Krebsforschung und -therapie?

Auch interessant

Das hat man wohl immer gesagt… Wir befinden uns seit etwas 15 Jahren in einer Phase, in der das Wissen aus der Grundlagenforschung auf diesem Gebiet mehr und mehr zum Nutzen der Patienten umgesetzt wird. Tatsächlich erkannte man schon um die Jahrtausendwende, dass die Tumoren bestimmter Brustkrebs-Patientinnen ein Wachstums-Signal über Hormon-Rezeptoren brauchen. Es wurden Medikamente entwickelt, die diese Hormon-Wirkung unterdrücken. Dadurch wachsen die Tumoren langsamer und es kommt seltener zu Rückfällen. Heute profitieren insbesondere Patienten mit Lungenkrebs, der häufigsten zum Tode führenden Krebs-Erkrankung, von zielgerichteten Medikamenten. Bei 20 Prozent finden wir Ansatzpunkte für eine zielgerichtete Therapie, die als erste Behandlung in der metastasierten Situation besser als die übliche Chemo wirkt. Mit Wachstum-Signal-hemmenden Tabletten können wir zudem weiteren 15 Prozent helfen, bei denen die Chemo nicht mehr wirkt. Und fast alle Patienten mit metastasiertem Lungenkrebs können heute eine zielgerichtete Immuntherapie erhalten.

Stichwort Immuntherapie: Immun-Checkpoint-Inhibitoren sind neben den Wachstum-Signal-hemmenden Tabletten (und den ähnlich wirkenden Antikörpern) ein weiterer Ansatzpunkt der Präzisionsonkologie...

Ja, in den letzten nicht ganz zehn Jahren gab es eine weitere dramatische Verbesserung für ganz, ganz viele Betroffene mit Lungen-, Brust-, schwarzem Haut- oder Nierenkrebs etwa: Bei diesen hemmt die zielgerichtete Therapie kein Signal der Krebszelle, sondern einen Stoffwechselprozess, der die körpereigene Immunantwort davon abhält, die Tumorzelle abzutöten, sie wirkt also indirekt. Auf diese Immun-Checkpoint-Hemmung – meist sind das Infusionen - sprechen viele Patienten sehr gut an, selbst Patienten mit Metastasen, denen man früher langfristig nicht helfen konnte. Wir haben Patienten mit gestreutem Lungenkrebs, die sind fünf, sechs Jahre krankheitsfrei, früher waren von denen nach zwei Jahren 95 Prozent verstorben.

Prof. Martin Schuler, Direktor der Inneren Klinik (Tumorforschung) am Westdeutschen Tumorzentrum, ist einer der Referenten beim  „Yes!Con Spezial Präzisionsonkologie“  am 14. September. Die FUNKE-Mediengruppe und die Patientenorganisation „yeswecan!cer“ laden ein, Experten beantworten Fragen zu den Themen Brust- und Lungenkrebs.
Prof. Martin Schuler, Direktor der Inneren Klinik (Tumorforschung) am Westdeutschen Tumorzentrum, ist einer der Referenten beim „Yes!Con Spezial Präzisionsonkologie“ am 14. September. Die FUNKE-Mediengruppe und die Patientenorganisation „yeswecan!cer“ laden ein, Experten beantworten Fragen zu den Themen Brust- und Lungenkrebs. © UME

Ist das Genom des Patienten für Präzisionsonkologen entscheidender als die Frage, ob es sich bei einem Karzinom um Darm- oder Hautkrebs handelt?

Das wäre eine verkürzte Darstellung. Informationen, die wir vor 30 Jahren berücksichtigt haben, sind heute noch immer wichtig. Wir finden vielleicht zwar identische Mutationen in einem Lungen-, einem Haut- und einem Darmkrebs. Bei nur bei den beiden ersten wirken unsere Tabletten, bei Darmkrebs nicht. Da brauchen wir noch eine ergänzende Therapie. Deshalb müssen wir auch wissen, wo sich der Krebs gebildet hat.

Grundlage der maßgeschneiderten Behandlung ist die molekulare Analyse und Diagnostik des Tumors. Reicht dafür eine Blutprobe aus?

Ich halte Gewebeproben nach wie vor für sehr wichtig. Sie liefern auch mehr Informationen über die Tumorerbsubstanz hinaus. Im Blut schwimmen viele Nukleinsäuren herum und nur ein kleiner Teil davon stammt vom Tumor. Liquid Biopsy (Flüssig-Biopsie zum Nachweis von Tumorzellen im Blut, die Red.) klingt total sexy, ist aber überwiegend noch ein experimentelles oder ergänzendes Verfahren.

Molekulare Diagnostik ist teuer. Zahlt die Krankenkasse dafür?

Beim metastasierten Lungenkrebs sind mehr als 85 Prozent der Kostenträger dem deutschen Diagnostik-Netzwerk beigetreten und zahlen eine Pauschale in einer Größenordnung von 1.500 EUR. Ist das teuer? Eher relativ günstig, denn man muss bedenken, dass eine Monatspackung der Medikamente, die auf Basis solcher Diagnostik verordnet wird, zwischen drei- und elftausend Euro kostet.

Wer entscheidet, welcher Patient welche zielgerichtete Therapie bekommt?

Auch interessant

In unserem Gesundheitssystem entscheiden das vor allem Zulassungsbehörde und Krankenkassen. Und unser Gesundheitssystem ist sehr permissiv. Was in wissenschaftlich kontrollierten Studien eine Wirkung zeigt, wird zugelassen. Ein Jahr später wird mit dem Hersteller über den Preis diskutiert. Je effektiver eine Therapie ist und je weniger Alternativen es gibt, desto höhere Preise können durchgesetzt werden. Die medizinische Indikation stellt am Westdeutschen Tumorzentrum ein gut ausgebildeter, qualifizierter Onkologe. Im Rahmen wissenschaftlicher Studien können Patienten darüber hinaus Zugang zu noch nicht zugelassenen Medikamenten erhalten. In seltenen Konstellationen und komplexen Fällen empfiehlt unser interdisziplinäres „Molekulares Tumorboard“ eine Therapie – über deren Erstattung die jeweilige Krankenkasse dann entscheidet.

Es gibt inzwischen insgesamt rund 60 Biomarker-gestützte Präzisionsmedikamente. Leider entwickeln Tumoren oft „Überlebensstrategien“, sie verändern sich, die Therapie wirkt nicht mehr, der Patient oder die Patientin entwickelt Resistenzen, braucht ein neues Medikament. Ist für dieses Problem eine Lösung in Sicht?

Tumoren sind in der Tat sehr instabil, ändern dynamisch ihre Eigenschaften unter der Behandlung, wir nennen das Plastizität. In der Regel wird bislang nur ein Medikament gegeben (Monotherapie). Abhängig von der Biologie der zugrundeliegenden Erkrankung kann man manche Krebsformen damit über Jahre kontrollieren, bei anderen Tumorarten hilft dies nur über sechs, zehn oder zwölf Monate. Gewisse Verbesserungen haben bereits neue Generationen von Hemmstoffen gebracht, die genauer und stärker wirken. Verschiedene Wirkstoffe in der zielgerichteten Therapie miteinander zu kombinieren ist eine weitere Idee, dieses Prinzip funktioniert ähnlich etwa bei Chemo oder HIV ja sehr gut. Daran wird sehr intensiv geforscht. Bei Resistenzen nach neuen Ansatzpunkten in der veränderten Tumor-DNA zu suchen, die Schlüsselgene also wiederholt zu sequenzieren, ist ein weiterer Weg. Mit daraus abgeleiteten Folgetherapien haben wir hier tatsächlich schon Patienten über zehn Jahre hinweg helfen können.

Die Pharmaindustrie klagt, Politik und Behörden hielten nicht Schritt mit der medizinischen Forschung…

Große Doppelblindstudien sind nicht möglich bei solchen hochgradig individuellen Verläufen, die klassische Methodik im Zulassungsverfahren kann man für Präzisions-Medikamente nicht einsetzen. Das kann man aber der Politik nicht vorwerfen. Man muss andere Methodiken entwickeln, etwa Behandlungsprinzipien prüfen, nicht einzelne Medikamente. Diese Methoden müssen dann von den Zulassungsbehörden anerkannt werden – da kann die Politik gefordert sein.

… andere sagen wiederum: Die Analytik sei viel weiter als die Therapie.

Ja, Sie können ganz viel testen – ohne dass der Patient etwas davon hat. Man kann sagen, die Analytik ist weiter, aber man könnte auch sagen, es wird viel unnötige Analytik gemacht. Die Entwicklung eines zielgerichteten Medikaments dauert zehn Jahre -- noch mehr Gene zu sequenzieren, geht ganz schnell, wenn die Methode steht. Wir geben meines Erachtens zu viel für Diagnostik aus, ohne vorher zu überlegen, welchen Nutzen sie dem Patienten bringt. Am WTZ testen wir außerhalb von Forschungsprojekten nicht das gesamte Genom eines Patienten, sondern nur einzelne Gen-Abschnitte, deren Veränderung belegte Behandlungsrelevanz hat.

Die meisten Patienten wissen wenig über die Möglichkeiten der Präzisionsonkologie. Wie sieht es bei den Ärzten aus, gibt es solches Fachwissen nur an Spezialzentren?

Ja, die gibt es in vollem Umfang nur an Zentren wie dem unseren. Das Thema ist hochkomplex, eine Zusammenführung solch hoher Kompetenz kann es nur an ganz wenigen Spezialzentren geben. Die Behandlung allerdings erfolgt größtenteils ambulant. Darum ist das Schlüsselwort: Vernetzen! Nicht kompetieren. Das funktioniert nur in Arbeitsteilung. Patienten sollten sich zudem unbedingt informieren, wo sie kompetent betreut werden können. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen oft mehr Energie in den Kauf der nächsten Waschmaschine stecken als in die Auswahl des bestmöglichen Krebszentrums.

Wer sollte seinen Onkologen, auf eine molekulare Diagnostik als Grundlage für eine zielgerichtete Therapie ansprechen?

Im Idealfall soll der Onkologe, die Onkologin von sich aus die bestmögliche Therapie anbieten. Viel wichtiger ist, dass solche molekularen Untersuchungen überhaupt gemacht werden. Die Kostenübernahme setzt da Hürden, gerade im stationären Bereich. Bei zu vielen Patienten wird das darum nicht gemacht oder erst nach x Wochen. Und man kann nicht immer warten. Sich an ein durch die Deutsche Krebsgesellschaft DKG zertifiziertes Zentrum zu wenden, ist ein guter Filter. Die Testung macht allerdings nicht bei allen Krebsarten Sinn. Bei den meisten Prostata-Karzinomen etwa kommen sie mit Genom-fokussierter Diagnostik heute nicht weiter. Bei Lungenkrebs dagegen gehört der Test schon bei kleinen Tumoren im Stadium 1b zum Standard. Ohne können Sie den Patienten nicht richtig behandeln.

Wird die Präzisionsonkologie irgendwann jedem Patienten helfen können?

Wir werden nicht jeden retten, heilen können. Dem Patienten über möglichst viele Jahre möglichst viel Lebensqualität zu erhalten – oder sie wieder herzustellen – ist unser Ziel. Und das können wir schon heute für sehr, sehr viele Menschen erreichen. Ich erwarte, dass es insbesondere über die Weiter-Entwicklung der Immun-Checkpoint-Hemmer noch mehr werden. Ein großes Thema für mich ist dabei zu verstehen, warum solche das Immunsystem modulierende Behandlungen bei dem einen Patienten funktionieren und bei dem anderen nicht.

>>> FUNKE-Patientenveranstaltung zur Präzisionsonkologie: “Yes!Con Spezial“

FUNKE und die Patientenorganisation „yeswecan!cer“ laden am 14. September zu einer kostenlosen Info-Veranstaltung zum Thema ein. Vier Expertinnen und Experten, darunter Prof. Martin Schuler, werden in kurzen Vorträgen über die Möglichkeiten der Präzisionsonkologie sprechen und darüber, welche Perspektiven sie Patienten und Patientinnen mit Lungenkrebs (ab 16 Uhr) und Brustkrebs (ab 18.30 Uhr) eröffnen. Anschließend werden die Mediziner die Fragen Interessierter beantworten.

Das „YES!CON-Spezial“ findet als Hybrid-Veranstaltung statt: Es kann direkt vor Ort im Essener Uniklinikum (Deichmann-Auditorium) oder online im Live-Stream auf den Portalen von FUNKE-Mediengruppe und „yeswecan.cer verfolgt werden.

Interessierte, die vor Ort teilnehmen möchten, bitten wir um Anmeldung: telefonisch unter 0201 / 804-8058; oder per Mail an (Stichwort: YES!CON). Bitte geben Sie Ihren Namen an, die Zahl Ihrer Begleiter, Ihre Anschrift und eine Kontaktmöglichkeit – sowie, für welche der Vorträge Sie sich interessieren. Anmeldungen für beide Themenkomplexe sind möglich. Der Live-Stream ist auf allen FUNKE-Portalen zu verfolgen.

Weitere Info: https://yeswecan-cer.org/