Berlin/Hamburg. Im Herbst dürften steigende Energiepreise zu Protesten führen. Hamburgs Verfassungsschutz fürchtet: Verfassungsfeinde werden mitlaufen.

Eines der zentralen Propaganda-Organe der extremen Rechten hat den Kurs schon neu ausgerichtet – ein großes Stück weg von Corona, hin zu den Themen Russland-Sanktionen und Energiekrise.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ist auf dem Cover der aktuellen Ausgabe des neurechten Magazins „Compact“, das auch vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Dazu der Titel: „Der Kaltmacher“. Der Grünen-Politiker ist in einem kühlen Blau inszeniert, schaut von oben auf den Leser herab. Wer das Heft kauft, könne lesen „was Morgenthau einst plante“ und Habeck nun umsetze, angeblich „die Zerstörung Deutschlands“.

1944 hatte der damalige US-Finanzminister Henry Morgenthau angesichts der Verbrechen des NS-Regimes in einem Papier gefordert, Deutschland zu teilen, das Militär abzuschaffen und die deutsche Industrie abzubauen. Die Thesen waren niemals Teil der amerikanischen Deutschland-Politik. Doch für rechte Scharfmacher war „Morgenthau“ immer schon Teil einer anti-amerikanischen und antisemitischen Verschwörung.

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Gaskrise: Rechte könnten Proteste kapern

Nun ist Robert Habeck im Visier der Hetzer – als Teil der Bundesregierung, die angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges von Russland Sanktionen gegen das Land verhängt und wie mehrere Staaten Waffen an die Ukraine liefert. Und die nun die Menschen auf einen Winter einschwört, in der das Gas knapp werden und die Preise weiter steigen könnten.

Jürgen Elsässer ist Chef von „Compact“, wichtige Figur der neurechten Szene. Ende Juli steht er vor einer Masse an Demonstranten auf dem Marktplatz in Wittenberg, wirft der Regierung vor, mit der Flüchtlingspolitik das „Volk austauschen“ zu wollen. Im Corona-Lockdown habe die Politik dann das „Volk eingesperrt“. Jetzt müsse „das Volk die Regierung einsperren“.

Radikale wittern neue Chance: die Energiekrise

Asylpolitik und Corona – es sind die Themen, auf die Radikale seit Jahren setzen, um Sorgen und Ängste unter den Menschen für ihre Ideologie zu missbrauchen. Nun aber wittern sie eine neue Chance: die Energiekrise, die hohen Preise, der Krieg Russlands in der Ukraine.

„Compact“-Chef Elsässer lobt Russland, das Gas immer „zuverlässig geliefert“ habe. Nun würden die „Grünen in den Krieg mit Russland ziehen“. Nur kurz spricht Elsässer von Corona und Flüchtlingen – und dann fast nur noch über Russland und Habeck. Kein Wort zu Putins Angriffskrieg, zu den mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Dann hat Elsässer noch eine Botschaft: „Wenn wir einen eiskalten Winter verhindern wollen, müssen wir einen heißen Herbst organisieren.“

Es sind diese Parolen, die in der Bundesregierung und in den Sicherheitsbehörden mit Sorge gesehen werden. Viele Menschen werden die massiv gestiegenen Kosten für Gas spüren, bei vielen wird das Geld eng. Davor warnen nicht nur Extremisten. Auch Gewerkschaften und Sozialverbände haben Proteste angekündigt. Linke Bündnisse machen mobil. Laut einer Umfrage zeigt zumindest fast jeder Zweite in Deutschland die Bereitschaft, in einer Notlage auf der Straße zu protestieren.

Warnung vor "Herbst der politischen Dissonanzen"

Der Extremismusforscher und Buchautor Matthias Quent warnt vor einem „Herbst der politischen Dissonanzen, in denen Narrative konkurrieren“. Nach dem Motto: „Rechts: Die Grünen sind schuld an der Gas-Krise. Links: Die Reichen sollen für die Krise zahlen“, so der Experte von der Hochschule Magdeburg-Stendal. „Die Frage für den Erfolg von Protesten ist, was ist überzeugender und motivierender und wer dominiert mit welcher Stoßrichtung die Debatte.“

Die politische Lage ist auch nach Ansicht von Experten wie Quent so „verdichtet“ wie selten zuvor: Krieg, Energiekrise, der ungelöste Klimawandel, steigende Preise – und zugleich ein Milieu aus extremen Rechten, Querdenkern, aber auch linken Esoterikern und Politikern wie Sarah Wagenknecht, die in der Corona-Pandemie zu einer gefährlichen Querfront zusammengefunden haben.

Verfassungsschützer sind alarmiert

Das alarmiert auch Verfassungsschützer. „Klar ist, Demonstrationen in der Energiekrise sind vollkommen legitim. Doch wir gehen davon aus, dass extremistische Verschwörungsideologen und weitere Verfassungsfeinde, etwa Rechtsextremisten und Reichsbürger, versuchen werden, diese Proteste für ihre ideologischen Zwecke zu missbrauchen“, sagt etwa Hamburgs Verfassungsschutz-Chef, Torsten Voß, unserer Redaktion.

Der sächsische Inlandsnachrichtendienst schreibt auf Nachfrage, dass extremistische Parteien das Ziel verfolgen würden, „von den sozialen Abstiegsängsten der Bürger“ zu profitieren. Und Brandenburgs Verfassungsschutzchef sagt in der „Welt“: „Extremisten träumen von einem deutschen Wutwinter.“

Es droht ein Herbst mit diversen Problemen

Warnungen kommen auch aus der Politik: von Innenministerin Nancy Faeser (SPD), von Sachsens Ministerpräsident Michael (CDU), Außenministerin Annalena Baerbock sah sogar einen „Volksaufstand“ aufziehen, wenn im Herbst das Gas ausgehe. Die Grünen-Chefin ruderte zurück, in der Bundesregierung kam Baerbocks Spekulation nicht gut an.

Die Äußerungen zeigen vor allem eines: die Nervosität der Politik. Schon in der Corona-Pandemie gelang es der Regierung nicht, die Demonstrierenden zu besänftigen. Sogenannte Querdenker organisieren vor allem in einzelnen Regionen immer wieder radikalen Protest. Und nun? Ein Corona-Herbst mit hohen Inzidenzen, zeitgleich mit einem Gas-Mangel und hoher Inflation?

Derzeit arbeitet der Verfassungsschutz an einer „Sonderauswertung“ und versucht, mögliche Szenarien für den Herbst zu beschreiben. Das Problem für die Sicherheitsbehörden: Sie bekommen von anderen Stellen bisher keine verlässlichen Informationen darüber, ob Gas oder Strom zeitweise so knapp werden, dass Hähne zugedreht werden. Doch genau das entscheidet mit, wie stark die Proteste im Winter werden. Und wie stark die extrem rechte Szene die Not der Menschen ausnutzen kann.

„Seit Beginn der Pandemie hat ein Spektrum aus radikalen Impfgegnern und sogenannten Corona-Leugnern eine Protest-Infrastruktur aufgebaut mit Ansprechpartnern und Kanälen für die Mobilmachung, mit Ordnern und Anmeldern. Wir gehen davon aus, dass das Milieu versuchen wird, diese Infrastruktur dann auch für die Proteste im Herbst zur Energiekrise zu nutzen“, sagt Verfassungsschützer Voß.

Aber Voß sagt auch: „Wir müssen schauen, wie sich die Teilnehmerzahlen entwickeln.“ In Hamburg beispielsweise seien Zahl der Protestierenden bei Corona-Demonstrationen deutlich zurückgegangen, die von Extremisten organisiert wurden. Sinken die Inzidenzen, sinkt auch das Mobilisierungspotenzial. Fallen die Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht, werden die Proteste weniger. Der sächsische Verfassungsschutz hält aktuell noch fest: „Zumindest mit dem neuen Thema Energiekrise ist den rechtsextremistischen Akteuren bisher noch kein durchschlagender Erfolg gelungen.“ Auch in anderen Diensten ist man bemüht, nicht in einen „Alarmismus“ zu verfallen.

Staat ist in einem Dilemma

Anfang September will sich Innenministerin Faeser mit den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern zusammensetzen und die Lage an der Protestfront besprechen. Aktuell ist in den Sicherheitsbehörden eine Vorsicht zu hören. Es sei gerade das permanente Warnen vor „Aufständen“, das derzeit vor allem den Radikalen bei ihrer Mobilisierung in die Hände spiele, warnt ein Sicherheitsbeamter.

Der Staat ist in einem Dilemma: Er muss die Szene im Blick behalten, denn die Pandemie hat gezeigt, dass ein Teil zu Gewalt bereit ist. Zugleich will die Regierung den Protest nicht größer reden, als er vor Ort ist. Und: Gehen Tausende auf die Straße, wird es für Polizei und Geheimdienst immer schwieriger, zu erkennen, wer rechtsextrem ist.

Der Blick geht bisher nach Ostdeutschland. Hier sind Gehälter niedriger, Vermögen und Erben geringer – und somit die existenzielle Not bei drastischen Preissteigerungen größer. Eine Not, an die Extremisten andocken. Allen voran die rechtsextremen „Freien Sachsen“.

Wie auch in der Corona-Pandemie ruft die aufstrebende regionale Kleinpartei zu „Bürgerwiderstand“ auf. Aus dem „Corona-Lockdown“ wird die Warnung vor einem „Energie-Lockdown“. Am Montag wollte die Partei im sächsischen Heidenau die „Entführung“ von Minister Habeck inszenieren und ihm in einem „Straßentheater“ den Prozess machen. Propagiert hatte die Partei die Aktion mit Bildern von Habeck, festgekettet in einem mittelalterlichen Folter-Pranger. Die Behörde vor Ort verbot die Aktion.

Es sind Formen des extremistischen Protests, die auch Gewalt verherrlichen. Gerade hier ist die Sorge der Sicherheitsbehörden hoch. Minister Habeck wird von Personenschützern bewacht. Doch bei anderen Politikerinnen und Politikern in den Städten und Kommunen gilt das nicht. Als eine Wohnungsgenossenschaft in Sachsen vor einigen Wochen das Warmwasser rationierte, machten Rechtsextreme Stimmung gegen die Vermieter, einer suchte die Genossenschaftsführung sogar vor Ort auf. Und Ende 2021 marschierten Protestler mit Fackeln vor das Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin.

Extremismusforscher fehlt klare Haltung der Bundesregierung

Die Parolen der extremen Rechten in Sachsen ändern sich, das Ziel bleibt gleich: die Attacke auf die Regierenden, gepaart mit Verschwörungsideologie und stramm rechten Parolen. „Hier geht es nicht um sachliche Kritik, sondern um den Missbrauch der grundgesetzlich geschützten Versammlungsfreiheit für eine extremistische Aktion“, hält Sachsen Verfassungsschutz fest.

Knapp 150.000 Profile folgen den „Freien Sachsen“ auf Telegram. Sie ist eine junge Partei, aber gerade in der zunehmenden Radikalisierung in Online-Netzwerken zu einem der zentralen Akteure in Ostdeutschland aufgestiegen. Zuletzt auch immer wieder mit pro-russischen Parolen, etwa einem Transparent: „Frieden mit Russland“.

„Mit Blick auf den Krieg beobachten wir bei manchen Extremisten eine ausgesprochen pro-russische Haltung – bis hin zur Leugnung, dass Putin der Aggressor und eigentliche Verantwortliche für Preise und Energiekrise ist und nicht die Regierung“, sagt Verfassungsschützer Voß. Extremismusforscher Quent fehlt „eine klare Position und Kommunikationsstrategie“ der Bundesregierung, „um die Menschen in der Krise mitzunehmen und einen solidarischen Zusammenhalt angesichts der Notlage zu stärken“.

Derzeit denken viele noch in Szenarien – wie „heiß“ der Herbst wird, hängt von zu vielen Faktoren ab. Viele setzen darauf, dass die Maßnahmen zur Entlastung der Menschen reicht und dass genug Gas angespart wird. Eine denkbare Variante. Im schlimmsten Fall aber treffen hohe Inzidenzen und daraus resultierende strikte Corona-Maßnahmen auf den Zeitraum, in denen die Menschen ihre Nebenkostenabrechnung bekommen und Wladimir Putin das Gas vollständig abdreht.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.