Berlin. Das Gutachten zur Wirksamkeit der Corona-Maßnahmen ist fertig. Jetzt beginnt das finale Ringen um die Pandemie-Regeln für den Herbst.

Es kommt nicht oft vor, das wissenschaftliche Gutachten so viel politischen Wirbel machen: Die Evaluation des Corona-Sachverständigenrat aber, die an diesem Freitag um 12 Uhr in Berlin vorgestellt wird, kann Pandemiegeschichte schreiben. Es geht um die Wirksamkeit der bisherigen Corona-Maßnahmen. Dahinter steht die alles entscheidende Frage: Welche Corona-Regeln sollen im nächsten Herbst gelten? Die Amtsärzte haben bereits sehr konkrete Wünsche.

Die Zeit drängt: In knapp drei Monaten, am 23. September, laufen die aktuell gültigen Corona-Regeln im Infektionsschutzgesetz aus. Ohne eine Anschlussregel würden alle Schutzmaßnahmen wegfallen. SPD und Grüne wollen lieber heute als morgen über eine Neufassung verhandeln. Die FDP dagegen wiederholt seit Wochen ihr Mantra: Erst das Gutachten, dann die Verhandlungen über den künftigen Infektionsschutz. Heißt: Ab Freitagmittag kann die Ampel-Koaltion endlich ernst machen mit den Vorbereitungen auf den Herbst.

Corona: Drosten übt scharfe Kritik am Sachverständigenrat

Doch liefert das Gutachten überhaupt die nötige Basis dafür? Davon sind nicht einmal die Sachverständigen selbst zu hundert Prozent überzeugt. Die Unsicherheit fängt schon bei der Methodik an. Wie soll man die Wirkung einer Maßnahme wissenschaftlich präzise messen, wenn man keine vergleichbare Kontrollgruppe hat? Ein Deutschland mit Lockdown, ein Deutschland ohne Lockdown – so etwas gibt es nur im Labor, nicht in der Realität.

Der Virologe Christian Drosten, der vor einigen Wochen als Sachverständiger das Handtuch warf, übt zudem scharfe Kritik an der Expertenrunde: „Die Kommission ist politisch und nicht nach wissenschaftlichen Kriterien zusammengesetzt.“ Ein Epidemiologe zum Beispiel sei gar nicht vertreten. Stefan Huster, Jurist und Vorsitzender des Gutachterkreises, dimmte seinerseits bereits die Erwartungen: „Bei einigen Maßnahmen reicht die Datenlage schlicht nicht aus, um ihre Wirksamkeit definitiv nachzuweisen. Sie aber deshalb als unwirksam zu verdammen, wäre auch verkürzt.“ Wer eine Liste mit einem Plus oder einem Minus hinter allen einzelnen Maßnahmen erwarte, werde enttäuscht.

Andere haben sich auch ohne die umstrittene Evaluation längst eine klare Meinung gebildet. Johannes Nießen, Leiter des Kölner Gesundheitsamtes, Vorsitzender des Bundesverbands der Amtsärzte und Mitglied im ständigen Corona-Expertenrat der Bundesregierung, sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: „Mit den Maßnahmen, die wir lange Zeit hatten, bis hin zum Lockdown, sind wir gut durch die Pandemie gekommen.“ Der Instrumentenkasten des Infektionsschutzgesetzes sollte deswegen im Herbst wieder alle Schutz-Maßnahmen enthalten, die am Anfang der Pandemie zur Verfügung standen.

Konkret: „Wir brauchen die Möglichkeit zur Maskenpflicht.“ Die FFP2-Maske sei sehr hilfreich, schütze Träger und Umgebung und bereite wenig Aufwand. Aber auch 2G-Regelungen und weitere Kontaktbeschränkungen sollten als Option im Gesetz stehen, so Nießen. Und: „Auch ein Lockdown muss als eines der letzten Instrumente grundsätzlich möglich sein. Im absoluten Ernstfall müssen die Landesregierungen wieder zügig Betriebe und Schulen schließen können. Wir müssen sämtliche Maßnahmen bedarfsweise nutzen können.“

Johannes Nießen, Leiter des Kölner Gesundheitsamtes, ist Vorsitzender des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes.
Johannes Nießen, Leiter des Kölner Gesundheitsamtes, ist Vorsitzender des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. © imago images/Horst Galuschka | imago stock

Ärztevertreter: „Die FDP sollte ihre Corona-Politik überprüfen“

Wichtig aus Sicht der Amtsärzte ist außerdem: „Wir müssen im Herbst schneller auf eine Verschärfung der Infektionslage reagieren können“, so Nießen. Im Moment liegt die Entscheidung über Schutzmaßnahmen bei den Länderparlamenten. „Das muss sich dringend ändern, weil das im Notfall zu lange dauert. Bis ein Landesparlament die Entscheidung getroffen hat, kann es für eine effektive Infektionskontrolle schon zu spät sein.“

Es gelte deswegen, die Entscheidung zu überprüfen, ob es richtig war, den Infektionsschutz in die Hand der Parlamente zu geben und nicht mehr bei den Landesregierungen zu lassen. „In der Pandemie muss das politische Tempo weiterhin hoch bleiben können“, fordert Nießen.

Deutliche Kritik äußert der Ärztevertreter an den Liberalen in der Ampel-Koalition: „Die FDP sollte ihre Haltung in der Corona-Politik überprüfen.“ In der Pandemie müsse die individuelle Freiheit mit Blick auf die Gefährdung der Anderen eingeschränkt werden können. Die Freiheit des Einzelnen habe ihre Grenzen, wenn sie die Erkrankung des Anderen bedeute, so der Mediziner. „Wir müssen insbesondere die älteren Menschen schützen.“

Nießen verlangte zudem mehr Tempo bei der Ausstattung der Gesundheitsämter: Mit den Finanzmitteln aus dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst seien bislang rund 2300 Stellen geschaffen worden. „Angekündigt waren jedoch insgesamt 5000 zusätzliche Stellen.“ Die zweite Tranche für die fehlenden Stellen sollte so schnell wie möglich kommen, so der Verbandsvorsitzende: „Bundesfinanzminister Christian Lindner sollte die Mittel kurzfristig freigeben. Wir brauchen diese Stellen, um die Herbstwelle zu bewältigen.“