Berlin. Die Grippesaison ist diesen Sommer ungewöhnlich hart, dazu kommt Corona. Mediziner fordern eine bessere Impfkampagne gegen Influenza.

Der Herbst wird heikel: Energie wird knapp, das Leben wird teurer, zudem erwarten Virologen eine neue Corona-Herbstwelle. Als reiche das alles noch nicht, warnen Experten nun auch noch vor einer Grippewelle. Wie gut Deutschland auf eine solche Doppelwelle vorbereitet ist, könnte sich bereits diesen Sommer abzeichnen.

Denn sowohl die Fallzahlen für das Coronavirus als auch für die Grippe steigen scheinbar stetig. Während sich die tatsächlichen Corona-Fälle kaum mehr korrekt erfassen lassen, weil ein erheblicher Teil der Infizierten keine PCR-Tests durchführen lässt und nur diese in die Statistik einfließen, gibt das Grippe-Geschehen ein erschreckendes Bild ab.

Wie Hochrechnungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeigen, besuchten zwischen dem 11. und dem 28. Juli rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland wegen einer akuten Atemwegserkrankung (ARE) einen Arzt oder eine Ärztin, die meisten davon wegen einer Influenza. Unabhängig davon geht das RKI derzeit allerdings von etwa 4,6 Millionen akuten Atemwegserkrankungen in Deutschland aus.

"Die Werte liegen auf einem deutlich höheren Niveau als in den Vorjahren", schreibt das RKI dazu in seinem ARE-Bericht. Verantwortlich dafür seien die vielen verschiedenen Atemwegserreger, die derzeit zirkulierten, so das Institut. Dazu gehört auch das Coronavirus mit seinen enorm hohen Neuinfektionen.

Nicht nur Corona- ,sondern auch Grippe-Sommerwelle

Die Doppelwelle könnte also schon in vollem Gange sein. Deutschland werde gerade nicht nur von einer Corona- sondern auch von einer starken Grippe-Sommerwelle erfasst, bestätigt auch der Statistiker Christian Hesse der Online-Version des "Focus". Der Grippe-Wert sei "dreimal so hoch wie es sonst in Sommermonaten üblich ist", sagt er.

Der Sommer 2022 dürfte dabei in besonders krassem Gegensatz zu jenen der Vorjahre stehen. "Im vergangenen Sommer hatten wir dagegen weder eine Corona- noch eine Grippe-Welle", so der Mathematiker. "In dieser Zeit vor einem Jahr lagen die Inzidenzen bei Werten von etwa 10."

Zumindest bei den Corona-Zahlen dürften die extrem hohen Inzidenzen auf die besonders ansteckende Omikron-Variante zurückzuführen sein, bei der die Sterblichkeit immerhin viel geringer ist als bei der Delta-Variante. Ein Grund zur vollständigen Beruhigung ist das laut Hesse aber dennoch nicht.

Die kombinierte Doppelwelle aus Corona und Grippe spiegele sich auch auf die Situation in den Krankenhäusern wieder, erklärt Hesse "Focus Online". Und auch das Abflachen des Reisegeschehens zum Ende des Sommers bereitet dem Experten Sorgen: "Nach Modellrechnungen wird sich durch diesen Infektionsschub vom schon hohen Niveau der Sommerwelle eine noch steilere Herbstwelle aufbauen."

Wie gefährlich wird die Grippe im Herbst?

Mit dieser Warnung steht der Datenexperte nicht alleine da. Der 19-köpfige Corona-Expertenrat der Bundesregierung warnte in einem Gutachten zur Lage im Herbst und Winter bereits im Juni vor einer Doppelbelastung durch Coronaviren und andere Erreger: Es sei anzunehmen, dass neben Covid-19 andere Atemwegsinfektionen in diesem Jahr in größerem Umfang zurückkehren werden und eine zusätzliche Belastung bedeuten.

Mit Blick auf Kinder und Jugendliche schrieben die Expertinnen und Experten: "Eine erneute erhebliche und über das normale Maß hinausgehende Häufung akuter Atemwegsinfektionen, vor allem mit RSV und Influenza sowie weiterer Infektionskrankheiten, ist spätestens ab Herbst 2022 zu erwarten." RSV steht für eine Virusinfektion der Atemwege, die vor allem bei kleinen Kindern gefährlich verlaufen kann.

Besonders das Infektionsgeschehen bei Kindern bereitet den Experten und Expertinnen Sorge
Besonders das Infektionsgeschehen bei Kindern bereitet den Experten und Expertinnen Sorge © dpa

Insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern könnte es erneut durch einen Wiederanstieg der saisonalen Atemwegserreger zu einer noch stärkeren Infektionswelle und damit zu einer Be- und Überlastung der Kinderkliniken kommen. Das Infektionsgeschehen im Herbst 2021 hatte Kinderkliniken bereits an ihre Belastungsgrenzen gebracht.

Corona und Grippe: Co-Infektionen sind möglich

Die allgemeine Krankheitslast werde zentral davon abhängen, welche Coronavirusvarianten im Winterhalbjahr dominierten und wie stark die Belastung mit den anderen akuten Atemwegserkrankungen, insbesondere der saisonalen Influenza-Welle, ausfallen werde.

"Hier sind einerseits Co-Infektionen möglich, andererseits belasten beide Infektionserkrankungen auch unabhängig voneinander das Gesundheitswesen stark", so die Expertinnen und Experten.

Eine erhöhte Empfänglichkeit der Bevölkerung gegenüber solchen Infektionen könnte zusammen mit geringen oder fehlenden Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus dazu führen, dass schwere krankenhauspflichtige Atemwegsinfektionen deutlich ansteigen, so die Experten. Heißt: Nicht nur die Höhe der Corona-Welle, auch die Wucht der Grippewelle hängt entscheidend davon ab, welche Schutzmaßnahmen im Herbst und Winter gelten.

Corona und Influenza: Was sagen die Ärzte?

Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes, will keine Ängste schüren, mahnt aber zur Vorsicht: "Ob uns eine heftige Grippesaison erwartet, hängt von vielen Faktoren ab und kann zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit gesagt werden. Klar ist aber, dass unsere Immunsysteme jetzt mehrere Jahre sehr wenig Kontakt mit Grippeviren hatten." Auch interessant: Grippe: Was für eine schwere Welle spricht – und was dagegen

Weigeldt warnt: "Das erhöht grundsätzlich die Chancen, dass die nächste Grippewelle schwerer ausfallen könnte." Gerade in diesem Herbst sei deswegen die Grippeimpfung sehr wichtig, insbesondere für Risikogruppen und Menschen ab 60. "Es muss gelingen, die Impfquoten deutlich zu steigern. In der Vergangenheit hat sich nicht einmal jeder zweite ab 60 gegen Grippe impfen lassen. Das ist deutlich zu wenig", sagte Weigeldt unserer Redaktion.

Die Hausärzte fordern daher die Politik auf, rechtzeitig zu handeln: "Wir brauchen diesen Herbst nicht nur eine positive Kampagne für die Corona-Impfung, sondern auch für die Grippeimpfung." Die Empfehlung des Verbandschefs: Die Impfquoten könnten dadurch gesteigert werden, dass die Grippeimpfung im Herbst mit der Corona-Auffrischungsimpfung kombiniert werde – um auf diese Weise "beide Impfungen quasi in einem Abwasch zu erledigen".

Impfungen für Grippe und Corona gleichzeitig möglich

Laut Ständiger Impfkommission (Stiko) können Grippe- und Corona-Impfung zeitgleich erfolgen, es muss kein Mindestabstand zwischen beiden Impfungen eingehalten werden. Das Robert Koch-Institut (RKI) empfiehlt, sich ab Oktober impfen zu lassen. Nach der Impfung dauere es zehn bis 14 Tage, bis der Impfschutz vollständig aufgebaut ist.

Es muss gelingen, die Impfquoten deutlich zu steigern, sagt Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes.
Es muss gelingen, die Impfquoten deutlich zu steigern, sagt Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes. © picture alliance/dpa | Sina Schuldt

Auch die Bundesärztekammer mahnt dringend zur Impfung: "Je weniger Menschen schwer an einer Influenza erkranken, desto mehr Behandlungskapazitäten bleiben frei für COVID-19-Patienten. Außerdem lassen sich mit der Grippeschutzimpfung Doppelinfektionen mit dem Corona- und dem Influenzavirus vermeiden", sagte Ärztepräsident Klaus Reinhardt unserer Redaktion.

An die Adresse der Politik richtete Reinhardt die Forderung, noch besser zu erklären, warum die Grippeimpfung nötig sei: Neben der Fortführung und Weiterentwicklung der Corona-Impfkampagne müsse es eine laienverständliche Aufklärung über den Nutzen von Grippeschutzimpfungen für besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen geben.

Um vor allem die Risikogruppen besser zu schützen, fordert Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), eine mit der Stiko koordinierte Planung für den Herbst. Kampagnen müssten gezielt auf Menschen ausgerichtet werden, die zur zur Hochrisikoklientel gehören, erkärt er – also vor allem diejenigen, die über 60 sind und solche mit chronischen Krankheiten.

"Ein mit der Stiko abgestimmter Plan, wer wann welche Impfungen erhalten soll, wäre wünschenswert", so Gassen. Grundsätzlich blickt der KBV-Chef aber optimistischer auf den Herbst als der Expertenrat.

"Ob und in welchem Umfang sich im Herbst eine Doppelwelle mit Corona- und Influenzafällen entwickeln wird, muss sich zeigen", so Gassen. Die Voraussetzungen seien in diesem Jahr besser als in den beiden Pandemiejahren zuvor: Viele seien vollständig gegen Corona geimpft und die aktuell grassierenden Virusvarianten deutlich weniger krankmachend.

Gibt es genügend Grippe-Impfstoff?

Für die Saison 2022/2023 wurden nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums rund 17,5 Millionen Dosen Grippeimpfstoff durch Ärzte und Apotheker vorbestellt. Die geplanten Produktionsmengen aller Hersteller lägen insgesamt bei rund 26 Millionen Dosen Grippeimpfstoffen.

Das für die Arzneimittelkontrolle zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) habe für die kommende Grippesaison einen Gesamtbedarf von rund 21 Millionen Dosen berechnet. "Für die Versorgung mit Grippeimpfstoffen dürfte somit ausreichend Impfstoff eingeplant sein und zur Verfügung stehen", heißt es auf Anfrage beim Ministerium. In der vergangenen Saison hätten insgesamt rund 27 Millionen Dosen Impfstoff zur Verfügung gestanden.

Welche Maßnahmen fordert der Expertenrat?

Grundsätzlich verlangen die Fachleute vor allem genauere Daten, um das Infektionsgeschehen und den Impfstatus der Bevölkerung besser kontrollieren zu können – ganz gleich ob bei Corona oder Influenza. So routiniert, wie inzwischen in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen auf Corona getestet werde, so selbstverständlich müsse im Herbst und Winter auch auf Influenzaviren und RSV getestet werden.

Zudem verlangen sie eine tägliche Erfassung der prozentualen Auslastung aller Intensivbetten und des Anteils der Covid-19- und Grippe-Patienten über das Divi-Intensivregister. (mit reba)