Berlin. Ist die beginnende Sommerwelle ein Vorgeschmack auf den Corona-Herbst? Warum der deutschen Politik wieder einmal die Zeit davon läuft.

Der Stoßseufzer der Stunde? „Bitte nicht schon wieder!“ Bitte nicht schon wieder eine Coronawelle, die durch die schiere Menge der Infizierten das Land massiv belastet. Doch die Bitte scheint zu verhallen: Die Corona-Zahlen steigen weiter deutlich an, in allen Altersgruppen geht die Inzidenzkurve nach oben. Auch die Zahl der Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen wächst laut RKI wieder deutlich. Ein Vorgeschmack auf den Herbst? Die Debatte über Gegenmaßnahmen hat bereits begonnen – doch der Politik läuft die Zeit davon. Macht das Land dieselben Fehler wie in den ersten beiden Pandemiejahren?

Wie wird der dritte Corona-Herbst? Gesundheitsminister beraten am Mittwoch

Am kommenden Mittwoch treffen sich die Gesundheitsminister der Länder, einen Tag später kommen die Kultusminister zusammen. In beiden Runden geht es um die Frage, wie sich Deutschland von der Kita bis zum Pflegeheim auf den dritten Corona-Herbst vorbereiten soll. Die Position der Länder ist weitgehend klar: Sie wollen vom Bund ein gut gefülltes Arsenal mit Corona-Maßnahmen und andererseits so wenige Einschränkungen für Kinder, Jugendliche und alte Menschen wie möglich. Zumindest das erst wird mit der FDP in der Bundesregierung schwer – die Liberalen wollen zunächst abwarten, bis der Corona-Sachverständigenrat Ende Juni seine Bewertung der bisherigen Maßnahmen vorgestellt hat.

„Nach über zwei Jahren Pandemie müssen wir besser als bisher auf den Corona-Herbst und -Winter vorbereitet sein“, sagt FDP-Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Dafür müsse man zunächst „mit der Evaluation der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung das ganze Bild bekommen und dann beraten“. Beispiel Maskenpflicht: Im Gegensatz zum 19-köpfigen Expertenrat der Bundesregierung, der sich jüngst für die Wiedereinführung einer Maskenpflicht als Option für den Herbst ausgesprochen hatte, reicht den Liberalen die durch Studien erwiesene Wirkung der Masken nicht aus, um sich jetzt schon im Grundsatz für eine solch Regel stark zu machen.

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Doch nicht nur die erneute Debatte um die Sinnhaftigkeit von Masken wirkt wie ein Déjà-vu. Auch bei der Frage nach soliden Pandemie-Daten, nach Schutzkonzepten für die Schulen und beim Impfen hat Deutschland aus Sicht vieler Experten und Beobachter noch nicht genug aus den Fehlern der vergangenen Sommer gelernt.

Corona-Fehler Nimmer 1: Lücken bei den Pandemiedaten

Meldelücken, veraltete Datenerfassung, fehlende Impfregister. Nicht nur aus der Wirtschaft kommt massive Kritik am staatlichen Schneckentempo – doch hier ist die Wut besonders groß: BDI-Präsident Siegfried Russwurm verurteilte jetzt im Gespräch mit dieser Redaktion die deutsche Corona-Politik scharf. „Die Tatsache, dass eine Industrienation im dritten Jahr diese Pandemie teilweise immer noch mit den Mitteln des frühen 20. Jahrhunderts bekämpft, ist wirklich verstörend“, so Russwurm. „Es ist jedenfalls kein Konzept, bis Oktober abzuwarten, um dann erst den einen Lösungsweg auszuprobieren und dann den nächsten und so die die ohnehin schon angespannte wirtschaftliche Lage weiter zu verschärfen.“ Die Politik trete seit zwei Jahren auf der Stelle, kritisierte Russwurm. „Das macht mich fassungslos.“

Noch immer gebe es keine vernünftige Datenlage, noch immer würden Inzidenzen per Hand eingesammelt. „Wir könnten längst viel weiter und besser unterwegs sein“, so der BDI-Präsident. „Ein moderner Staat sieht anders aus.“ Zuverlässigere Meldedaten sind Teil des von Gesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigten Sieben-Punkte-Plans für den Herbst – ob die Zeit für die Umsetzung reicht, ist allerdings offen.

Corona-Fehler Nummer 2: Streit um Corona-Regeln im öffentlichen Raum

Die FDP sieht hier keinen Handlungsdruck. „Das bisherige Infektionsschutzgesetz mit seiner Hotspot-Regelung ist noch bis zum 23. September in Kraft. Hier besteht also kein Grund zur Eile“, sagt Stark -Watzinger. Ärztevertreter halten das Zögern für riskant, die Grünen fordern konkrete Schritte bereits vor der Sommerpause, SPD-Mann Lauterbach will sich mit der FDP bis dahin zumindest auf Eckpunkte verständigen. Die Hoffnung bei SPD und Grünen: Dass der Druck aus den Ländern für ein Paket aus Maskenpflicht, 2G und Zugangsbeschränkungen so groß ist, dass die FDP am Ende mitzieht.

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Corona-Fehler Nummer 3: Schlecht vorbereitete Schulen

Zu wenig geimpfte Schülerinnen und Schüler - immer noch Nachholbedarf bei der Digitalisierung des Unterrichts: Hier sieht Bildungsministerin Stark-Watzinger deutlich mehr Eile geboten. Die Gesundheitsministerkonferenz und die Kultusministerkonferenz sollten sich in dieser Woche dringend mit den Schulen und den Impfungen befassen. „Wir brauchen neben einer hohen Impf- und Boosterquote bei älteren Menschen vor allem mehr niedrigschwellige Impfangebote an den Schulen“, sagte die Ministerin dieser Redaktion. Die entsprechende Empfehlung der Ständigen Impfkommission sei da. Darüber hinaus sollten die Kultusminister noch einmal bekräftigen, dass es keine Schulschließungen mehr geben dürfe. „Wir müssen vielmehr den Digitalpakt weiter beschleunigen.“

Corona-Fehler Nummer 4: Unklarheit bei den Tests

Die Regelung zu kostenlosen Bürgertests für alle läuft Ende Juni aus – noch ist unklar, wie es mit dem Angebot weitergeht. Gesundheitsminister Lauterbach will in Kürze eine neue Teststrategie für die kommenden Monate vorstellen – den deutschen Laboren kommt das im Grund zu spät: Seit Jahresbeginn weise man darauf hin, dass mit Blick auf die erwartbar hohen Infektionszahlen im Herbst und Winter eine vorausschauende Planung notwendig sei, hieß es jüngst beim Laborverband ALM. Nötig sei eine Festlegung der Testkapazitäten, die weiterhin vorgehalten werden sollen, damit die fachärztlichen Labore über die Sommerferien hinweg eine ausreichende Planungssicherheit hätten. Im vergangenen Winter waren die Labore bei den PCR-Tests an ihre Grenzen geraten, die Tests wurden daraufhin eingeschränkt.

Dieser Artikel wurde zuerst auf morgenpost.de veröffentlicht.