Bad Reichenhall. In den bayerischen Alpen gibt es eine große Dunkelziffer bei Vermisstenfällen. So suchen Experten und Freiwillige nach Antworten.

Ein Schuh mit Überresten eines Fußes ist bislang der einzige Hinweis auf den Verbleib einer 53-jährigen Wanderin aus München. Ihr letztes Lebenszeichen ist ein Eintrag im Gipfelbuch am Pflasterbachhörndl bei Bad Reichenhall in Oberbayern vom 24. Juli 2020. Seitdem gilt die Frau als vermisst.

Es ist eines von etwa 1600 Vermissten-Schicksalen, die sich in den vergangenen Jahren in Bayern ereignet haben. Wie viele Personen allein in den Bergen verschwunden sind, hat die Polizei nicht statistisch erfasst. Laut Polizeipräsidium Oberbayern Süd ist von mindestens zwölf Menschen auszugehen, die derzeit als spurlos verschwunden gelten – und das wie im Fall der Münchnerin auch nicht erst seit gestern.

Vermisstenfälle in den Alpen: Berg-Spezialisten und alpines Equipment

„Die Suche nach Vermissten ist unser täglich‘ Brot“, sagt Martin Emig, Sprecher der Polizei Oberbayerin Süd. Anders als im Tal ruft die Suche nach Vermissten in den Bergen alpine Spezialisten auf den Plan, die am Berg oder in der Luft operieren. Hubschrauber, Wärmebildkameras oder Hundestaffeln sind nur einige Mittel, die in den Alpen zum Einsatz kommen. Und das entgegen dem weit verbreiteten Irrglauben nicht erst nach 24 Stunden.

Es ist eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Denn: „Der Alpen-Raum ist nicht kartografiert“, sagt Roland Ampenberger, Leiter des Bergwacht-Zentrums Bayern. Wetter- und Witterungsverhältnisse und das unwegsame Gelände steigern das persönliche Risiko für die Such-Profis. Dabei sei für die erfahrenen Suchteams immer mit dem schlimmsten zu rechnen.

Trotz der scheinbaren Hoffnungslosigkeit, die von den Vermisstenfällen in den Alpen ausgeht, hat sie einige Menschen im Raum Oberbayern zum Engagement inspiriert. Rund zehn Personen haben sich zur freiwilligen Helfergruppe „Alpine Vermisstensuche“ im Sommer 2018 zusammengeschlossen.

Sie unterstützt Angehörige, aber auch die Polizei und Bergwacht, wenn es schon längst keine Hoffnung mehr gibt: „Wir kommen zu dem Zeitpunkt ins Spiel, wenn relativ sicher ist, dass die vermisste Person nicht mehr lebt“, sagt Gründungsmitglied Johanna Bartos.

Alpine Vermisstensuche: Erster Fall endet mit Leichenfund

Es war ein Hilfeaufruf der Ehefrau des Kanadiers Jeff Freiheit, der die gelernte Höhlenretterin mit weiteren Mitgliedern der Gruppe in Kontakt brachte. Der 32-Jährige war am 2. August 2018 am Brauneck als vermisst gemeldet worden. Er wollte alleine über die Alpen nach Venedig wandern.

Eine großangelegte Suchaktion von Polizei und Bergwacht blieb ergebnislos und musste aufgrund fehlender Hinweise zunächst eingestellt werden. „Das hat uns nicht mehr losgelassen“, sagt Bartos. Nach drei Wochen fanden die Ehrenamtlichen mithilfe der Familie aus Kanada seine Leiche.

Johanna Bartos, Gründungsmitglied der freiwilligen Helfergruppe
Johanna Bartos, Gründungsmitglied der freiwilligen Helfergruppe "Alpine Vermisstensuche" © Johanna Bartos

„Es ist über die Zeit der Suche hinweg eine tiefe Freundschaft zur Familie des Verunglückten entstanden. Am Ende fühlte ich mich wie ein Familienmitglied und habe mit ihnen mitgefiebert und -gelitten“, sagt Bartos. Was sie alle verbinde sei die Liebe zu den Bergen und zum Wandern. „Und es ist halt ein etwas anderes Wandern – quasi Wandern mit Sinn“, erklärt Bartos pragmatisch.

Die Gruppe suche am Berg aber nicht nach Toten, sondern nach Hinweisen. Und dabei sei jeder Quadratmeter entscheidend. „Da spielt oft auch viel Glück mit. Wir sind nun mal keine professionellen Detektive“, sagt Peter Huck, den die Wander-Leidenschaft zur Gruppe gebracht hat.

Zahl der Unglücksfälle während Corona-Pandemie gestiegen

Neben zwei weiteren Fällen im Allgäu und im Kaisergebirge beteiligt sich die Helfergruppe an der Suche in Bad Reichenhall. Auch wenn bislang nur der Teil eines „sterblichen Überrests“ gefunden wurde, von dem die Polizei spricht: „So schnell geben wir nicht auf“, so Bartos. „Es ist für uns zur Berufung geworden, nach Vermissten zu suchen.“

Während der Corona-Pandemie ist die Zahl der Unfälle in den bayerischen Alpen gestiegen. Im Sommer verunglückten laut Unfallstatistik der Bergwacht Bayern 3650 Menschen und damit 250 mehr als noch im Vorjahr. Laut Johanna Bartos hätten sich viele Urlauber wegen dem Coronavirus für einen Urlaub in Deutschland entschieden. Meist seien es Anfänger, die unvernünftig unterwegs seien und verunglücken.

Ob die Wanderin aus München ihre geplante Route unterschätzt hat, schlecht vorbereitet war oder vom Wetter überrascht wurde, wird wohl nie ganz geklärt werden können. Doch das Ziel der Helfergruppe ist es, den Angehörigen Gewissheit zu bringen, damit sie damit abschließen können.