Jerusalem. Die Menschen in Israel sind pandemiemüde. Viele feiern ausgelassen, während schon wieder eine neue Corona-Welle bevorstehen könnte.

Viele kleine Supermänner und Gespenster laufen derzeit durch Jerusalems Straßen. Sie rufen Passanten „Frohes Fest!“ zu und verteilen Bonbons und Marshmallows. Jüdische Israelis begehen das Purimfest, bei vielen Kindern ist es die beliebteste Feier im jüdischen Festkalender. Da dürfen die Kleinen sich in die tollsten Verkleidungen werfen und Süßes essen, bis ihnen die Milchzähne ausfallen. Und ihre Eltern dürfen sich hemmungslos betrinken.

Anders als in den vergangenen zwei Jahren soll Purim diesmal so richtig groß und ohne Schuldgefühle gefeiert werden. Erstmals seit Beginn der Pandemie möchten sich viele wieder all dem hingeben, was zwei Jahre lang verpönt war: riesigen Tanzpartys und großen Straßenfesten, auf denen keiner nach Masken oder Impfpässen fragt. In diesem Jahr, so hört man immer wieder, mache Corona dem Fest endlich keinen Strich durch die Rechnung.

Ultraorthodoxe Männer und Kinder feiern das Purimfest in einer Synagoge in der Stadt Bnei Brak östlich von Tel Aviv. Der jüdische Feiertag Purim erinnert an die Rettung der Juden vor dem Völkermord im alten Persien.
Ultraorthodoxe Männer und Kinder feiern das Purimfest in einer Synagoge in der Stadt Bnei Brak östlich von Tel Aviv. Der jüdische Feiertag Purim erinnert an die Rettung der Juden vor dem Völkermord im alten Persien. © dpa | Oded Balilty

BA.2 macht bereits 60 Prozent der neuen Fälle aus

Doch genau das macht denen, die ihre Tage aus beruflichen Gründen vor Infektionstabellen und Epidemiekurven verbringen, in Israel große Sorgen. Es ist eine gefährliche Mischung, die sich über dem Land zusammenbraut: Nach dem Ende der Omikron-Welle waren die Infektionen laufend zurückgegangen. Doch dieser starke Rückgang der Inzidenzen scheint nun zu einem Stillstand gekommen sein.

Die hochinfektiöse Variante BA.2 macht bereits 60 Prozent der neuen Fälle aus. Der Infektionskoeffizient, der als Pegelmesser dafür dient, ob eine neue Welle im Anrollen ist oder nicht, nimmt seit einigen Tagen einen beängstigenden Verlauf. Er liegt nun auf dem höchsten Wert seit Januar und nähert sich der kritischen Schwelle von 1. Manche sprechen schon von einer neuen Welle.

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Viele Partys wohl in Innenräumen

Dazu kommt eine ungewöhnliche Kältewelle. In Jerusalem wurden in der Nacht auf Donnerstag Minusgrade verzeichnet – das ist Mitte März in Israel eine Sensation. Für die Purim-Feiern bedeutet das, dass viele Partys nicht wie geplant im Freien, sondern im Inneren stattfinden werden – oft in Räume mit schlechter Belüftung und dichtem Gedränge.

Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, der vielleicht den Beginn einer neuen Welle markieren könnte, findet sich das ganze Land zu großen Superspreader-Events ein.

Als wäre das nicht genug, wurden zuletzt in Israel auch zwei neue Virusvarianten entdeckt. Da ist einerseits „Deltakron“, eine Mischung aus Delta und Omikron. Experten vermuten zwar, dass die Variante sich weniger schnell ausbreitet als Omikron: In Europa war Deltakron schon vor einigen Wochen aufgetaucht und schien bislang nicht auf dem Durchmarsch zu sein. Außerdem wird angenommen, dass Deltakron nicht so schwere Krankheitsverläufe verursacht wie einst Delta, da heute viele Israelis immunisiert sind.

Die Hälfte der Bevölkerung dreifach geimpft

Das sind bislang aber nur Spekulationen. Niemand weiß, inwiefern die vielen Omikron-Genesenen in Israel nun ausreichend gegen die neue Variante geschützt sind. Zwar ist die Hälfte der israelischen Bevölkerung dreifach geimpft. Doch bei den allermeisten sind seit dem dritten Stich schon mehr als sechs Monate vergangen, die Wirkung der Impfung ist somit stark reduziert.

Die vierte Impfung ist jedoch nur für Personen über 60 Jahre und für Menschen mit Vorerkrankungen zugänglich, und das dürfte bis auf Weiteres auch so bleiben.

„Am Mittwoch kam dann auch noch eine Nachricht, die weitere Ungewissheit schuf: Bei zwei Rückkehrern aus dem Ausland wurde nach Routinetests am Flughafen Tel Aviv eine gänzlich neue Variante festgestellt. Gesundheitsminister Nitzan Horowitz gab am Mittwoch bekannt, dass bei den Auswertungen zweier Nasenabstriche, die man bei den Einreisenden am Flughafen abgenommen hatte, eine weltweit bisher unbekannte Variante isoliert worden sei.

Es handle sich um eine Kombination aus den beiden Omikron-Varianten BA.1 und BA.2. Aber was bedeutet das?

Ukraine-Krieg hat Pandemie in Hintergrund geschoben

„Es gibt keinen Grund zur Panik“, beruhigt der Gesundheitsminister, der am Mittwoch zum ersten Mal seit mehreren Wochen wieder zu einem Corona-Beratungsgespräch mit Premierminister Naftali Bennett zusammentraf. Der Ukraine-Krieg hatte das Thema Pandemie in den Hintergrund geschoben, nun drängt es sich von selbst wieder auf.

„Wir haben ineinander integrierte Varianten identifiziert, die auf der ganzen Welt noch nicht entdeckt worden sind, und wir halten das unter Beobachtung“, bestätigt der Minister.“

Derzeit gehe man davon aus, dass es eine in Israel hausgemachte Variante sei: Die Rückkehrenden, rund 30-jährige Eltern eines kleinen Kindes, hätten sich bei dem ebenfalls covid-positiven Sohn angesteckt. Sie würden unter Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen leiden, aber keine besondere medizinische Versorgung benötigen, heißt es im Gesundheitsministerium. Und der Minister ruft die Bevölkerung auf: „Seid bitte auch weiterhin vorsichtig.“

Weitere Informationen: Omikron-Welle: Israel kapituliert im Kampf gegen Corona

Covid-Disziplin lässt nach

Wie ernst die Menschen diese Bitte nehmen werden, wird man sehen. Wie in vielen anderen Ländern lässt auch in Israel die Covid-Disziplin nach. Masken werden auch dort oft nicht mehr getragen, wo sie noch vorgeschrieben sind. Impfnachweise und Tests werden ohnehin fast nirgends mehr verlangt, seit die Regierung den Grünen Pass abgeschafft hat.

Im Gesundheitsministerium wird damit gerechnet, dass der Infektionskoeffizient schon kommende Woche über 1 liegen wird. Das bedeutet, dass die Infektionszahlen dann wieder ansteigen werden. Mit welchem Tempo das geschehen wird, weiß niemand.

Sollte es tatsächlich zu einer neuen Welle kommen, dann startet sie auf einem hohen Niveau: Schon jetzt liegen die Neuinfektionen bei rund 6000 neuen bestätigten Fällen pro Tag, die Sieben-Tage-Inzidenz bei 480. Vor zwei Jahren hätten solche Zahlen einen Lockdown ausgelöst.

Lediglich Maskenpflicht bis Mitte April verlängert

Von neuen Einschränkungen ist nun aber vorerst keine Rede. Die Regierung hat lediglich beschlossen, die Maskenpflicht noch bis Mitte April zu verlängern. Eigentlich hätte das Gebot, in allen öffentlichen Räumen einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, mit 1. April fallen sollen.

Angesichts der jüngsten Infektionszahlen gab Premierminister Bennett nach einem Gespräch mit dem Gesundheitsminister am Mittwoch bekannt, dass man noch das Pessachfest Mitte April abwarten werde. Zu Pessach finden große Familienfeiern statt, Fromme strömen in die Synagogen. In den vergangenen zwei Jahren drückte sich das mit zweiwöchiger Verspätung stets in einem Anstieg der Infektionszahlen aus.

Alle Israelis, die ihre dritte Impfung noch nicht erhalten haben, sollten das jetzt nachholen, rief Bennett seine Landsleute auf. Und in den Krankenhäusern, die schon jetzt über dreihundert schwer erkrankte Covid-Patienten versorgen müssen, hoffen die Ärzte und Pfleger, dass möglichst viele Israelis der Bitte des Regierungschefs folgen.