Berlin. Die FDP will Ende März sämtliche Corona-Maßnahmen beenden. Doch der Gesundheitsminister mahnt zur Vorsicht. Wer liegt jetzt richtig?

Mit dramatischen Modellrechnungen kann man in der Pandemie vieles erreichen – mehr Vorsicht, mehr Rücksicht, aber auch Angst und Ärger. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) muss sich jetzt anhören, er sei ein „Angstminister“, weil er vor stark steigenden Totenzahlen warnt. Zu Recht oder zu Unrecht? Wie viel Angst müssen wir jetzt noch vor Corona haben?

Am Donnerstag meldete das Robert Koch-Institut 238 Todesfälle. An den Tagen zuvor waren es 272, davor 177. Viele dieser Menschen sind nicht an der Omikron-Variante verstorben, sondern sind späte Opfer der Delta-Welle.

„Zahl der Neuaufnahmen wird noch zunehmen“

Auf den Intensivstationen liegen aber auch wieder zahlreiche Omikron-Patienten: „Derzeit kommen im Schnitt täglich bereits mehr als 200 Patienten neu auf die Intensivstationen. Die Zahl der Neuaufnahmen wird in den kommenden Wochen noch zunehmen. Das liegt auch am zeitlichen Verzug zwischen Infektion und Erkrankung“, sagt Christian Karagiannidis, Intensivmediziner und Mitglied des Corona-Expertenrats.

Aktuell kommen pro Tag rund 200 Patienten neu auf die Intensivstationen.
Aktuell kommen pro Tag rund 200 Patienten neu auf die Intensivstationen. © dpa | Thomas Banneyer

Lauterbach hatte am Dienstagabend im ZDF davor gewarnt, dass die Zahlen in Deutschland auf „400, 500 Tote am Tag“ steigen könnten, wenn es Lockerungen wie in Israel geben würde. Der Protest kam mit Verzögerung, aber dafür umso deutlicher: Ethikratsmitglied Stephan Rixen sagte dem ZDF, dass „Bedrohungsszenarien ins Blaue hinein Grundrechtsbeschränkungen nicht rechtfertigen“ könnten. Hamburgs CDU-Vorsitzender Christoph Ploß nannte Lauterbach bei „Bild“ einen „Angstminister“.

Lauterbach: Deutlich höhere Inzidenz bedeutet deutlich mehr Tote

Lauterbach wies die Vorwürfe am Donnerstag via Twitter zurück. Er habe „das nicht gerne Gehörte, aber Offensichtliche“ gesagt: „Würde unsere Inzidenz deutlich steigen, hätten wir deutlich mehr Tote.“ Lauterbach beruft sich auf das Modellierungssystem des RKI.

Auch Modellierer Thorsten Lehr von der Universität des Saarlands rechnet so: Sollten die Inzidenzen auf Werte bis 4000 steigen, seien auch Todeszahlen von bis zu 500 möglich. Aktuell liegt die Inzidenz in Deutschland bei 1465, Tendenz steigend.

Lesen Sie auch: Corona-Lockerungen: Lieber im „Team Vorsicht“ bleiben

Deutlichen Anstieg bei den Todeszahlen

Doch ist es wirklich so einfach? „Die Modellierung von Todesfällen im Verhältnis zur Zahl der Infektionsfälle ist schwierig. Es hängt immer davon ab, wie hoch die Inzidenz unter den Ungeimpften und den über 60-Jährigen ist“, sagte Karagiannidis im Gespräch mit unserer Redaktion.

„Auf den Intensivstationen sehen wir allerdings gerade, dass der Anteil der Ungeimpften und der über 60-Jährigen deutlich steigt.“ Mehr noch: „In den Ländern, die die Corona-Maßnahmen stark gelockert oder ganz abgeschafft haben, sehen wir einen deutlichen Anstieg bei den Todeszahlen. Das gilt etwa für Dänemark, Großbritannien, Südafrika und Frankreich.“

Stiko empfiehlt Älteren die vierte Impfdosis

Das heißt: Die im Vergleich immer noch recht strengen Maßnahmen in Deutschland schützen uns bislang relativ gut. Wer jung, gesund und geboostert ist, hat ohnedies ein extrem geringes Risiko für eine schwere Erkrankung nach einer Omikron-Infektion. Wer dagegen ohne ausreichenden Impfschutz ist oder eine schwache Immunantwort hat, der hat grundsätzlich ein höheres Risiko zu erkranken.

Weil Experten bei Omikron insgesamt eher schwächere Krankheitsverläufe beobachten, kommen deutlich weniger Menschen auf die Intensivstation als etwa bei Delta. Doch die Annahme, Omikron-Infektionen verliefen ausnahmslos harmlos, ist falsch. Die Ständige Impfkommission (Stiko) will deswegen nun über 70-Jährigen und Risikopatienten eine vierte Impfdosis empfehlen.

Kurz vor dem Ziel nicht aufgeben

Intensivmediziner Karagiannidis warnt einerseits vor Alarmismus, andererseits aber auch vor Blauäugigkeit: „In Deutschland können wir es schaffen, durch die Omikron-Welle zu kommen, ohne das Gesundheitssystem zu überlasten. Wir sollten aber mit Lockerungen warten, bis die Zahlen wieder stabil nach unten gehen.“

Es sei unvernünftig, kurz vor dem Ziel die Schutzmaßnahmen aufzugeben. „Das wäre so, als würde man bei einem Marathon bei Kilometer 41 aufhören zu laufen.“

Auch interessant: Corona-Krisenmanagement: Sicher in die nächste Welle

"Freedom Day": FDP will Ende aller Maßnahmen am 20. März

Die FDP dagegen drängt zu schnellen Lockerungsschritten und will sämtliche geltenden Corona-Schutzmaßnahmen im März beenden: „Am 20. März sollte Deutschland zur Normalität zurückkehren“, sagte FDP-Fraktionschef Christian Dürr unserer Redaktion.

„Denn dann laufen die Maßnahmen aus, wenn der Bundestag nicht aktiv eine Verlängerung beschließt.“ Für eine Verlängerung bestehe aus heutiger Sicht jedoch kein Anlass.

„Der Gradmesser für die Corona-Einschränkungen muss immer die Belastung des Gesundheitssystems sein. Glücklicherweise gibt es diese Überlastung nicht mehr“, so Dürr. Man erlebe gerade, dass die Kliniken sehr gut mit der Omikron-Welle umgingen, das habe auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft bestätigt.

„Freiheitseinschränkungen Schritt für Schritt zurückzunehmen“

„Daher sollten wir schon heute damit beginnen, die Freiheitseinschränkungen Schritt für Schritt zurückzunehmen und zum 19. März – also in über einem Monat – auslaufen zu lassen.“

Der Bundestag hatte Ende 2021 die epidemische Notlage nationaler Tragweite nicht verlängert, aber durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) weiterhin mögliche infektionsschutzrechtliche Maßnahmen festgehalten, die bis zum 19. März 2022 befristet sind.

Sollte es zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Überlastung des Gesundheitswesens oder zu gefährlicheren Varianten kommen, sei der Bundestag jederzeit kurzfristig handlungsfähig, erklärte der FDP-Fraktionschef.

Dieser Artikel ist zuerst auf morgenpost.de erschienen.