Ottawa/Washington. In der kanadischen Hauptstadt wollen Trucker die Regierung Trudeau und deren Corona-Politik aus dem Amt hupen. Das steckt dahinter.

In Sam Peckinpahs amerikanischem Fernfahrer-Kino-Epos "Convoy" machten wütende Trucker um den Anführer "Rubber Duck" in den 70er Jahren ein Kleinstadt-Gefängnis zu Brennholz, um einen inhaftierten Kollegen loszueisen.

So weit will der harte Kern der kanadischen Querlenker nicht gehen, die seit über einer Woche das Parlamentsviertel in Ottawa mit Abgasen vollstinken und mit Dauer-Hupkonzerten und Feuerwerken an den Rand der Verzweiflung bringen.

LKW-Fahrer wollen Abschaffung aller Corona-Maßnahmen erreichen

Den Organisatoren des "Konvois für die Freiheit" um die Aktivistin Tamara Lich geht es kompromisslos um die restlose Abschaffung sämtlicher Corona-Restriktionen. Und den Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Justin Trudeau.

Trotzdem ist Gewalt nicht ausgeschlossen.

Begonnen hatte das weltweit einmalige Spektakel, das nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden an diesem Wochenende neuen Zulauf bekommen wird, Mitte Januar am anderen Ende des Landes.

Von der Provinz Britisch-Kolumbien im Südwesten aus setzte sich ein rund 60 Kilometer langer Lindwurm aus Lastkraftwagen in Bewegung und knatterte knapp 4400 Kilometer durch eisige Einöde bis in die Hauptstadt.

Kanadas Ministerpräsident Trudeau musste Amtssitz verlassen

Gut 15.000 Trucker und andere Demonstranten nisteten sich im Viertel rund um das auf einem grünen Hügel gebaute neogotische Parlamentsgebäude ein. Straßen wurden kurzerhand blockiert. Restaurants und Geschäfte mussten schließen. Trudeau wurde samt Frau und Kindern aus Sicherheitsgründen vorübergehend ausquartiert. Die "Brummi"-Fahrer bremsten die Hauptstadt komplett aus.

Weil einige Protestler auf dem Grab des unbekannten Soldaten tanzten, das nationale Kriegsdenkmal anpinkelten, in Obdachlosen-Einrichtungen die Herausgabe von Essen erzwangen, Masken tragende Hauptstädter anpöbelten und mit Neonazi- sowie Konföderierten-Fahnen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg wedelten, kippte schnell die Stimmung.

Proteste von Truckern ein "Anschlag auf die Demokratie"?

Trudeau sagte, Kanada sei "angewidert" ob der "illegalen Proteste". In der größten kanadischen Zeitung, "The Globe and Mail", sprach der Kommentator Omar Azis, dessen Onkel mütterlicherseits allesamt im Trucker-Business sind, von einem "gut finanzierten Anschlag auf unsere Demokratie". Unter dem Vorwand, die Freiheit verteidigen zu wollen, solle ein demokratisches Wahlergebnis gekippt werden.

Dabei mutet der Auslöser für das Ganze profan an. Mitte Januar hatten sich Kanada und die USA im grenzüberschreitenden Warenverkehr darauf verständigt, dass ungeimpfte Trucker mit Ahorn-Blatt nach der Rückkehr aus Amerika zwei Wochen in Quarantäne müssen. US-Brummi-Lenker dürfen gar nicht nach Kanada einreisen, wo Covid-19 trotz einer 70-protentigen Impfquote nach wie vor ein großes Problem darstellt.

Kommt finanzielle Unterstützung aus den USA?

Für die Standesvertretung der "Helden der Landstraße" kein Problem. 90 Prozent der 120.000 Trucker in Kanada, sagt ein Gewerkschafter, "sind vollständig geimpft - hier versucht offenbar eine radikale Minderheit das Land in Geiselhaft zu nehmen".

Womöglich gesteuert aus dem Süden. Ottawas Polizeichef Peter Sloly deutet an, dass logistische und finanzielle Unterstützung für den rollenden Protest aus den USA kommt. Dort nennt Ex-Präsident Donald Trump das "freiheitsliebende" Aufbegehren der kanadischen Trucker vorbildlich.

Weil der Verdacht besteht, dass wohlhabende Geldgeber aus den USA ein angeblich für notleidende Protest-Trucker eingerichtetes Konto auf der Spenden-Plattform "GoFundMe" mit § fluten, hat das Unternehmen nach zehn Millionen Dollar ein Einzahlungsstopp verhängt.

Trucker-Proteste gegen Corona-Politik: Bisher keine Festnahmen

Sicherheits-Apparat und Politik geben in der Behandlung der bizarren Protestaktion für den Geschmack vieler Kanadier ein zwiespältiges Bild ab. Polizei-Chef Sloly bescheinigt einem Teil der Demonstranten kriminelles Verhalten. Anwohner seien "Opfer von extremem Lärm und Drohgebärden" geworden. Der zur Schau gestellte Hass habe "keinen Platz in unserer Stadt".

Nennenswerte Festnahmen gibt es aber nicht. Die Stadtverwaltung spricht von bisher 120 verhängten Bußgeldern. Sloly sagt im gleichen Atemzug, dass nur eine "politische Lösung" den motorisierten Aufstand befrieden könne, der den Hauptstädtern, wie Leserbriefe in den Zeitungen belegen, zunehmend an den Nerven zerrt.

Premierminister Trudeau will mit den Organisatoren des "Konvois" aber nicht auf Augenhöhe verhandeln, solange deren Maximalforderung an Erpressung grenzt: "Wir bleiben solange hier, bis die Freiheit wiederhergestellt ist", sagt Tamara Linch.

Konservative wollen aus den Protesten Kritik schlagen

Candice Bergen, die neue Interimsvorsitzende der oppositionellen Konservativen, wittert unterdessen einen Chance. Die Parlamentarierin aus Manitoba will nachweislich geleakter E-Mails politisches Kapital daraus schlagen, falls die Proteste eskalieren sollten. Sie nennt die Demonstranten analog zu Donald Trump "ehrenhafte Patrioten". Man müsse etwaige Konflikte zu Trudeaus "Problem" machen, schrieb Bergen.

Ottawas Bürgermeister Jim Watson findet das erbärmlich. Er verlangt den Einsatz der legenden "Royal Canadian Mounted Police" (RCMP). Sie soll der lokalen Polizei Verstärkung leisten, falls sich die Proteste zur Dauerveranstaltung entwickeln. Ausgeschlossen scheint das nicht zu sein.

Im "Confederation Park" nahe des Regierungssitzes haben Trucker am Donnerstag damit begonnen, ein größeres Holzhaus zu errichten. Kanister mit Benzin und Kartuschen mit Propangas gegen die extreme Kälte (bis zu minus 35 Grad) stehen bereit. "Wir richten uns langfristig ein", twittern Teilnehmer.

Proteste bisher friedlich - Polizei befürchtet gewaltsame Auseinandersetzungen

Befürchtet wird bei Polizei und Medien, dass der bisher von verbalen Auseinandersetzungen abgesehen meist friedlich verlaufene Protest in Gewalt umschlagen könnte. "Vielen hier liegen die Nerven blank", sagte ein Anwohner der Sender CTV, "man fühlt sich wie unter einer Besatzung, die mit Lärm terrorisiert."

Dass Militär als Ordnungsmacht im Innern einzusetzen, wie vereinzelt gefordert, kommt für Premierminister Trudeau aber nicht infrage. "Das steht im Moment nicht zur Debatte", sagte er. Soldaten gegen Kanadier einzusetzen, damit müsse man "sehr, sehr vorsichtig sein".

Gegner der Corona-Politik: Landwirte wollen Proteste unterstützen

An diesem Wochenende wollen sich Hunderte Landwirte aus dem eine Stunde von Ottawa entfernten Alexandria auf ihren Traktoren dem Protest anschließen.

Doug Ford, der konservative Premierminister der Provinz Ontario, in der Ottawa liegt, ist eigentlich ein Intimfeind von Justin Trudeau. Aber auch er spürt den wachsenden Groll der Bevölkerungsmehrheit. Es sei Zeit, die Menschen in Ottawa wieder "ihr Leben leben zu lassen". Seine Botschaft: Trucker, bitte fahrt nach Hause!